Christina Paulhofers Inszenierung von Frank Wedekinds "Frühlings Erwachen" setzt mit einem verheißungsvollen Akkord ein: Ein junger Mann mit Gitarre, allein vor dem eisernen Vorhang, gegen seine Verlegenheit ankämpfend, singt ohne professionellen Anspruch, dafür umso glaubwürdiger von seiner Sehnsucht, endlich frei zu sein von Zwängen und Vorschriften, weg zu gehen, irgendwohin, nur weit weg. Doch der Abend löst nicht ein, was der Anfang verspricht. Sobald der Vorhang aufgeht und den Blick auf die bestenfalls funktionell zu nennende Einheitsdekoration (Bühne: Alex Harb) - viel Kupferblech, weiße Fliesen - freigibt, verändern sich Ton und Gestus. In der Folge dominieren dröhnender Disco-Sound und hektische Hypermotorik.

Freilich lässt sich die einst so brisante "Kindertragödie" in einer Zeit, für die Koedukation und sexuelle Aufklärung längst selbstverständlich sind, nicht mehr einfach vom Blatt spielen. Als Wedekind in seinem 1890/91 entstandenen Werk die Verklemmtheit und Verlogenheit einer alles Geschlechtliche tabuisierenden Bürgermoral anprangerte, drückten ihm die Sittenwächter unverzüglich den Stempel der Pornographie auf. Erst 1906 konnte Max Reinhardt in Berlin die Uraufführung der von der Zensur arg beschnittenen Szenenfolge durchsetzen. Heranwachsende schlittern zwar heute in der Phase ihres sexuellen Erwachens nicht mehr völlig ahnungs-, rat- und hilflos in existentielle Katastrophen, doch das bedeutet keineswegs, dass sich physisches Begehren und Emotion so einfach auf einen Nenner bringen ließen oder dass alle Sprach- und Verständigungstabus zwischen den Generationen gefallen wären. Was das betrifft, hat Wedekinds Werk nichts an Gültigkeit verloren. Mag sein, dass Christina Paulhofer mit ihrem eigentümlichen Aktualisierungsversuch ganz allgemein auf die Probleme einer von den Erwachsenen im Stich gelassenen Jugend verweisen wollte, einer Jugend, die ihr sexuelles Begehren keineswegs versteckt, sondern deutlich zur Schau stellt. Doch das optisch Vermittelte gerät da allzu oft im Widerspruch zum Gesagten.

Einige Missverständnisse

Das Missverständnis beginnt schon mit der Bühnenfassung: Die junge deutsche Regisseurin, die sich bei ihrem Wien-Debüt mit "Klaras Verhältnisse" von Dea Loher bestens einführte, eliminiert sowohl die erbarmungslos autoritären Gymnasiallehrer, die Wedekind nicht weniger erbarmungslos karikierte und mit sprechenden Namen bedachte, als auch Melchior Gabors honorig-steifen, auf Zucht und Sitte pochenden Vater. Während Wedekinds Gesellschaftsdiagnose die streng patriarchalen Strukturen des wilhelminischen Zeitalters spiegelt, konfrontiert Paulhofer mit einer vaterlosen, von hysterischen Müttern irregeleiteten Gesellschaft.