Alles Leben ist dem Vergehen geweiht. Unausweichlich. Das Sterben ist dabei keineswegs jene höchst persönliche Angelegenheit, als die wir den (menschlichen) Tod meist begreifen. Die Endlichkeit ist das ewige Band, das alles Lebendige miteinander verbindet. Der Tod wird damit zum Mosaikstein der Unendlichkeit. Das ewige Sterben zum Motor, ja zum Sinn des Lebens.
Es ist weniger eine Totenmesse, die der italienische Regisseur Romeo Castellucci 2019 in Aix-en-Provence und nun bei den Wiener Festwochen auf die Bühne gestellt hat, sein auf Mozart basierendes "Requiem"-Projekt ist eine sinnliche, symbolträchtige wie ergreifende Feierstunde des Lebens, ein bunter ritueller Tanz für den ewigen Kreislauf aus Werden und Vergehen, der alles mit einander verknüpft, einen Bogen spannt aus der Urzeit bis in die Gegenwart.
Beginnen lässt Castellucci das große Sterben mit einem Defilee des Vergangenen. Beim "Introitus" zieren die Rückwand projizierte Namen ausgestorbener Arten, von den Sauriern bis zum Atlasbären. Beim "Dies Irae" ziehen Namen vergangener Pflanzenarten vorüber, "Rex" ist ausgetrockneten Seen gewidmet, das "Lacrimosa" toten Sprachen. Während dieser verbalen Huldigung des Verflossenen entfesselt das Ensemble einen unaufhörlichen Sog intuitiver Bilder, einen visuellen Strudel, der stets an Intensität gewinnt - mit folkloristischen Reigentänzen, bunten Farbaktionen, fallenden Bäumen, wehenden Fahnen und auf der Bühne verteilter Erde. Hier wird ein Kind mit Farbe bestrichen und Honig übergossen, dort stehen Männer nackt um ein Feuer, vollführt der Chor vor einem Autowrack Todesposen.
Im Rausch des Sterbens
Castelluccis Bilder sind überhöht und erdig zugleich, bringen den biblischen Palmenzweig und den volkstümlichen Bändertanz zusammen. Daraus entsteht eine artifizielle Archaik, die - vor allem in Zusammenhang mit der Musik - in den Bann zieht, absolut zu packen versteht. Im "Offertorium" ist der Todeszug mit zerstörten Bauwerken, darunter die Berliner Mauer, das World Trade Center und das eben erst im Ukraine-Krieg zerbombte Theater von Mariupol dann beklemmend in der Gegenwart angekommen, von der Metaebene Kunst in die Realität gesprungen.

Kindliche Unschuld als Weg von der Gegenwart in die Zukunft: Romeo Castellucci arbeitet mit rituellen Handlungen und stark aufgeladenen Symbolen.
- © Wiener Festwochen / Pascal VictorDieser dramaturgische Bogen, den Castellucci mit den Echsenbeckensauriern beginnt und mit der Projektion des aktuellen Datums endet, vermag, was Musiktheater nur allzu selten gelingt: tief zu erschüttern, von der Kunst eine Brücke in das Leben des Einzelnen zu schlagen.
Ein Tod ohne Stachel
Besonders packend ist diese Sogwirkung, weil die oft rätselhaften, teils verstörenden Bilder Castelluccis und die Musik perfekt ineinander greifen, ja einander verstärken. Musikalisch steht bei diesem kraftvollen Stück Musiktheater Mozart im pulsierenden Zentrum. Dirigent Raphaël Pichon hat dessen unvollendet gebliebenes letztes Werk hier nicht nur, wie üblich, um die Süßmayr-Rekonstruktionen, sondern auch mit Einschüben anderer sakraler Mozartwerke, sowie mit gregorianischem Choralmaterial ergänzt.

Das französische Originalklang-Ensemble Pygmalion ist es, das diesen Abend nicht nur klanglich trägt: Die Musiker im Graben mit einem packenden, mitreißenden Mozart, der die sich immer wieder steigernde Intensität dieser Totenmesse zu entfachen versteht. Und der Chor, der sich nicht nur musikalisch mit einer fein balancierten und pointierten Interpretation darin einwebt, sondern auch noch das szenische Rückgrat dieser Produktion ist. Was die Sängerinnen und Sänger - inklusive des homogenen Solisten-Quartetts - hier tanzend und springend, liegend und kriechend, frohlockend und sterbend zustande bringen, ist beeindruckend.
Mit Jubel bedankte sich am Freitag das ergriffene Wiener Publikum für diese Hymne auf das Wunder des Lebens, das mit emotionaler Wucht und tröstlicher Demut aufzeigt, wie der Rausch des Sterbens und der Sog des Lebens ineinander fallen.