Der Sound-Tüftler und Komponist Anton Iakhontov gehört zu den renommiertesten russischen Medienkünstlern; er war zuletzt künstlerischer Leiter des Medienzentrums im Alexandrinsky Theater in St. Petersburg. Seit kurzem hält er sich in Wien auf. Mit der "Wiener Zeitung" sprach der 42-Jährige über seine Beweggründe, Russland vorerst zu verlassen.

"Wiener Zeitung": Warum haben Sie Russland verlassen?

Anton Iakhontov: Der Angriffskrieg auf die Ukraine schockiert mich zutiefst. Für die meisten Menschen in Moskau und anderswo geht das Leben weiter wie bisher. Aber für mich persönlich war das eine rote Linie.

Wie verlief Ihre Reise hierher?

Ich kam mit dem Flugzeug via Istanbul an. Normalerweise dauert dieser Flug knapp zwei Stunden, wir benötigten sieben Stunden - und dabei hatte ich noch irrsinniges Glück. An diesem Tag erreichte nur mein Flugzeug sein Ziel, alle anderen Maschinen wurden gecancelt oder kehrten um. Im Flugzeug war ich umgeben von Russinnen und Russen, darunter auffallend viele Personen aus kreativen Berufen - Fotografinnen, Blogger, Friseure. Ich hatte den Eindruck, wer kann, verlässt das Land.

Warum kamen Sie nach Wien?

Als Komponist und Medienkünstler kann ich überall arbeiten, ich brauche nur einen Computer. In den vergangenen Jahren führten mich Engagements wiederholt nach Österreich; in Wien habe ich neben anderen Projekten etwa die Bühnenmusik von "Gemeinsam ist Alzheimer schöner" in den Kammerspielen umgesetzt. Ich studierte in Wien, etablierte hier auch die "Floating Sound Galerie", habe Freunde und Bekannte in der Stadt. Wien war also eine naheliegende Entscheidung.

Welche Pläne haben Sie?

Eines der Projekte, an denen ich bereits mitwirkte, war ein Multikanal-Konzert mit Stücken ukrainischer Komponisten an der Universität für Musik und darstellende Kunst. Die Einnahmen wurden gespendet. Viele meiner künstlerischen Projekte stecken im Augenblick fest. Ich versuche, meinen ukrainischen Freunden so gut wie möglich zu helfen.

Wie vertraut ist Ihnen Kiew?

Ich habe viele Freunde dort und kenne die Städte gut, die jetzt in Schutt und Asche liegen. Mit Kiew verbinde ich viele Erinnerungen, 2010 war ich als Kurator bei einem internationalen Sound-Art-Festival tätig. Ich habe die Ukraine als ein weltoffenes und westlich orientiertes Land kennen und schätzen gelernt. Veranstalter, die Medien und auch das Publikum sind weitaus aufgeschlossener gegenüber der Avantgarde, als dies in Russland der Fall ist. In Russland dominiert auch in der Kunst der Konservativismus.

Wie beurteilen Sie Putins Invasion?

Ich bin weder Politiker noch Analytiker. Putin führt den Krieg, weil er denkt: "Warum nicht?" Von Beginn an ging es ihm um die Rückeroberung sogenannter "abtrünniger Staaten": In den Nullerjahren wurde unter seinem Kommando Krieg in Tschetschenien geführt, darauf folgte 2008 der Kaukasuskrieg, 2014 die Besetzung der Krim und der Donbass-Regionen. Jetzt der brutale Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine.

Hat der Westen zu lange weggesehen?

Rückblickend könnte man das so sagen, aber im Nachhinein ist man immer klüger. In Russland spürte man schon Monate vor dem Angriff, dass etwas vor sich geht. Es lag förmlich in der Luft. Rund um Silvester feierte ich mit Freunden in einem Lokal, der Barkeeper prostet uns zu: "Trinken wir darauf, dass wir im kommenden Jahr nicht eingesperrt werden."

Kennen Sie inhaftierte Menschen?

Natürlich. Es reicht sehr wenig, um in Russland weggesperrt zu werden. Zuletzt bekam ich mit, wie eine junge Frau abgeführt wurde, die öffentlich ein Schild hochhielt, auf dem stand: "Du sollst nicht töten". Das ist doch eines der zehn Gebote, oder?

Ja, das fünfte.

Putins Regime ist nicht über Nacht entstanden. Es hat sich Schritt für Schritt entwickelt, über Jahre hinweg gefestigt. Freie Meinungsäußerung und unabhängige Medien? Danach können Sie in Russland lange suchen. Die staatliche Propaganda ist wahrscheinlich die teuerste der ganzen Welt, allgegenwärtig, extrem gut gemacht und spricht nicht nur Emotionen einfacher Leute an, sondern auch viele Intellektuelle. Putins Medien kopieren geschickt demokratische Werkzeuge, um ihr Narrativ vom großartigen Großrussland zu inszenieren und zu implementieren. Nehmen wir als Beispiel eine TV-Talkshow: Es gibt Studiogäste, Rede und Gegenrede, auf den ersten Blick ein offener Diskurs. In Wahrheit ist aber alles perfekt inszeniert, es kommen nur dem Regime genehme Personen zu Wort - und auch die dürfen nur das von sich geben, was von ihnen erwartet wird. Das Meisterstück von Putins Propagandamaschinerie ist die Behauptung, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Da hätte bereits ein Aufschrei durchs Land gehen müssen! Was ist mit dem Gulag? Dem Holocaust?

Steht, wie derzeit von vielen befürchtet, die Menschheit am Beginn eines Dritten Weltkriegs?

Gegenfrage: Hat die Menschheit im Oktober 1939 geahnt, dass sie sich bereits im Zweiten Weltkrieg befand? Aus Biografien und Tagebüchern von damals wissen wir, dass dem nicht so war. Wer erklärt einen Krieg zum Weltkrieg? Eines ist aus russischer Seite gewiss: Der jetzige Krieg gilt nicht vorrangig der Ukraine selbst, sondern der westlichen Orientierung des Landes. Im Grunde ist der Westen das Feindbild.

Wie und wann wird dieser fürchterliche Krieg enden?

Wenn ich das wüsste! Auch wenn es mir den Verstand raubt: Ich habe darauf keine Antwort.