Bereits von Kindesbeinen an gilt ihr Interesse dem Tanz: zuerst dem Ballett dann dem Zeitgenössischen. Heute ist die studierte Dramaturgin Bettina Masuch (57) eine Tanzspezialistin der zeitgenössischen Szene. Ab Herbst 2022 wird sie als Leiterin vom Tanzhaus NRW in Düsseldorf an das Festspielhaus St. Pölten wechseln und Brigitte Fürle ablösen. Im Gespräch erzählt Masuch enthusiastisch von ihren Plänen, auch das St. Pöltener Publikum begeistern, und die Tradition mit der Gegenwart vereinen zu wollen sowie bekannte Stars als auch Neuentdeckungen zu präsentieren. Und sie erzählt von Pina Bausch.

"Wiener Zeitung": Sie hatten ab 2009 die Leitung des Springdance Festivals im niederländischen Utrecht inne, ab 2014 waren Sie Intendantin des Tanzhauses NRW in Düsseldorf und des Berliner Tanzfestivals "Tanz im August", davor Dramaturgin in Brüssel, Jena und an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Tanz begleitet Ihr Leben. Wodurch und wann wurde Ihr Interesse geweckt?

Bettina Masuch: Ich hatte, wie wahrscheinlich viele kleine Mädchen, Ballettunterricht, sogar schon vor dem Schulbeginn. Meine Eltern waren Abonnenten im Solinger Stadttheater und liebten vor allem Oper und Operette. Meine Heimatstadt Solingen liegt bei Wuppertal, wo Pina Bausch damals ihre ersten Stücke produzierte. Im Zuge eines künstlerischen Austauschabkommens zwischen diesen beiden Städten gastierte das Tanztheater Wuppertal auch in Solingen. Meine Eltern mochten die Arbeit von Pina Bausch überhaupt nicht, und so ging ich zu der Abovorstellung. Es gab massive Störungen im Zuschauerraum, das Publikum versuchte, die Vorstellung zu unterbrechen. Ich war 13 Jahre alt, ohne Erfahrung mit modernem Tanz, und verstand überhaupt nicht, was ich da sah. Ich bin danach zu Fuß nach Hause gegangen, denn ich musste das Gesehene verarbeiten. Am folgenden Tag bin ich wieder hingegangen. Von heute aus betrachtet, würde ich sagen, die Auseinandersetzung mit dem Werk von Pina Bausch hat mich Kunst sehen gelehrt.

Was hat Sie überzeugt, ans Festspielhaus St. Pölten zu wechseln?

Das Haus und der Gedanke, hier Tanz groß denken zu können, das Tanzhaus NRW ist ja im Vergleich zum Festspielhaus ein kleineres Theater mit weniger Platz, und die Möglichkeit zur Zusammenarbeit mit den Tonkünstlern. Diese ist für den zeitgenössischen Tanz außergewöhnlich. Es gab in der Vergangenheit, vor allem in der jüngeren Generation, wenige Choreografen, die sich mit klassischer Musik auseinandersetzen. Das ändert sich gerade. Der junge belgische Choreograf Jan Martens etwa wird im Festspielhaus seine erste Choreografie für das Opera Ballet Vlaanderen präsentieren.

Nach Ihrem Lebenslauf zu schließen, steht Tanz nun an erster Stelle im Festspielhaus. Doch da gibt es noch das Tonkünstler-Orchester.

Unbedingt. Die Tonkünstler sind ein wichtiger Teil des Hauses, sozusagen sein Alleinstellungsmerkmal. Ich glaube aber, dass ein großer Teil der künstlerischen Identität auch durch den Tanz entsteht. Was mir wichtig ist, ist, in der Kooperation mit den Tonkünstlern ein paar neue Wege einzuschlagen. Nicht nur Tanz also. Damit diese Zusammenarbeit künstlerisch fruchtbar wird, muss man aber auch ein bisschen mehr Zeit miteinander verbringen. Meine Vorbereitungszeit war geprägt von Lockdowns. Somit hatte ich wenig Gelegenheit, das Orchester kennenzulernen im Sinne meiner dramaturgischen Ausbildung und Erfahrung: Also zu Proben zu gehen und Stimmungen aufzunehmen. Es ist für mich erst der Beginn der Zusammenarbeit.

Im Rahmen von "100 Jahre Astor Piazzolla" ist am 17. März 2023 das Quinteto Astor Piazzolla zu Gast. - © Cristian Welcomme
Im Rahmen von "100 Jahre Astor Piazzolla" ist am 17. März 2023 das Quinteto Astor Piazzolla zu Gast. - © Cristian Welcomme

Wie lautet Ihre Vision für das Haus?

"Umarmung" ist das Motto meiner ersten Saison. Sie steht für Berühren und Berührt-Werden und umschließt verschiedene Menschen mit verschiedenen Vorlieben. Das Festspielhaus präsentiert einerseits Künstlerinnen und Künstler, die unser Publikum bereits kennt. Darüber hinaus möchte ich eine junge Generation von Choreografinnen und Choreografen vorstellen, die sehr unterschiedlich auf unsere Welt von heute reagieren. In der Musik gilt das Gleiche: Auch hier wird es neue Namen geben, vor allem in der Kammermusik. Ich wünsche mir, dass das Festspielhaus in der Tradition verankert steht mit einem weltoffenen Herzen für die Gegenwart und für die neuen Herausforderungen unserer Zeit. Was ich außerdem für sehr wichtig erachte, ist, dass das Haus kein UFO ist, auch, wenn es ein bisschen so dasteht. Es soll Teil der Stadt sein und wahrnehmen, was gerade vor Ort, aber auch in diesem Land in den Kunstsparten passiert und dementsprechend reagieren. Wir möchten nicht nur l‘art pour l‘art präsentieren, sondern uns auch einmischen mit einer Kunst, die sich mit der Gegenwart auseinandersetzt. Dazu zählen auch Klassiker aus heutiger Sicht betrachtet.

Akram Khan gastiert mit seiner Version des Ballettklassikers "Giselle" im Februar 2023 im Festspielhaus. - © Laurent Liotardo
Akram Khan gastiert mit seiner Version des Ballettklassikers "Giselle" im Februar 2023 im Festspielhaus. - © Laurent Liotardo

Wie Akram Khans "Giselle" mit dem English National Theater, das auf dem Programm steht?

Ja, genau. Dieses Stück ist eine Herzensangelegenheit, denn ich bin überzeugt, dass es so toll ist, dass es eigentlich jeder sehen sollte. Khans Bearbeitung ist ein Beweis dafür, wie man mit einem zeitgenössischen Blick die Klassiker neu sehen kann. Ganz Wien müsste deshalb für dieses Stück nach St. Pölten kommen. (lacht)

Graben Sie mit Ihrer Programmierung von Doris Uhlich, Akram Khan oder auch Anne Teresa De Keersmaeker nicht den Wiener Institutionen wie dem Tanzquartier oder dem Impulstanz-Festival das Wasser ab?

Bettina Kogler, Karl Regensburger, Christophe Slagmuylder sind Kolleginnen und Kollegen, die ich seit Jahren kenne, sehr schätze und mit denen ich im Austausch bin. Genauso sehe ich die Zusammenarbeit: als eine Ergänzung der Programme mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die Produktion mit Doris Uhlich bekommt eine andere Ausstrahlung, wenn sie im Festspielhaus mit mehr als 1.000 Plätzen aufgeführt wird. Das heißt aber nicht, dass die nächste Produktion nicht etwa im Tanzquartier stattfinden kann. Impulstanz ist eine relativ kurze und dafür sehr intensive Periode im Jahr. Im Falle von De Keersmaeker zeigen wir eines ihrer ersten Signature-Pieces, und es wäre doch eine schöne Ergänzung, wenn dann einige Monate später vielleicht bei Impulstanz die neue Produktion zu sehen wäre.

Mit Ihrem Blick aus Deutschland gesehen: Wo steht das Festspielhaus heute, und wo wird es in vier Jahren stehen?

Man kennt das Festspielhaus international, weil es ein wichtiger Kooperationspartner für den zeitgenössischen Tanz ist. Für die Zukunft wünsche ich mir für das Haus, dass die internationale Wahrnehmung unterfüttert wird durch eine noch stärkere lokale und regionale Wahrnehmung, und dass das Haus auch von einer Bandbreite an unterschiedlichen Menschen vor Ort als "ihr" Festspielhaus angenommen wird.

Werden Sie dafür neue Formate planen?

Ja, auf jeden Fall. Aber erst in der nächsten Saison. Auf Grund all der pandemiebedingten Einschränkungen während der Planungszeit waren Formate, die physische Nähe und Berührung brauchen, für mich im Moment schwer vorstellbar.

Was wünschen Sie sich?

Ich wünsche mir ein sehr diverses Publikum und seine Offenheit, sich auf Dinge einzulassen, die es noch nicht kennt, oder die ihm noch nicht so vertraut sind.