Zum Pessachfest trifft sich die Familie Merz/Jakobovicz. Ein großbürgerlicher jüdischer Clan mit Wurzeln im Schtetl in Galizien. Textilfabrikant, Arzt, Hochschulprofessor. Die Matriarchin Emilia (Marianne Nentwich) hat zwar etwas zu monieren: die um sich greifende Assimilation, die schon ein über die Bühne getragener Christbaum symbolisiert. "Getauft und beschnitten in nur einer Woche", bringt sie es für ihren Enkel pointiert auf den Punkt. Der Davidstern darf trotzdem nicht auf die Baumspitze.

Hermann Merz (Herbert Föttinger) wiederum glaubt, dass diese Anpassung an den Norm-Lebensstil der Donaumonarchie-Oberschicht dazu führen wird, dass sich Vorurteile über Juden in Kürze aufhören werden. "Das 20. Jahrhundert steht bevor. Die Ghettos und Pogrome werden eingerollt und weggeschmissen, Europa hat das überwunden." Diese Ansicht wird die Geschichte bald Lügen strafen, das arbeitet Tom Stoppards generationenübergreifendes Familien-Epos "Leopoldstadt", das am Donnerstag im Theater in der Josefstadt deutschsprachige Erstaufführung feierte, heraus.

Geschichte im Zeitraffer

Das Stück begleitet diese Großfamilie durch 50 Jahre österreichische Geschichte. Von jenen eingangs beschriebenen Zeiten, in denen man diskutiert, ob Theodor Herzls Idee vom Judenstaat den Antisemitismus nicht noch befeuert und nicht die Leopoldstadt eher das Gelobte Land ist, über den Zerfall des Vielvölker-Habsburgerreichs, die Zwischenkriegszeit, die Nazi-Gräuel bis hin zum Staatsvertragsjahr, in dem sich eine dezimierte Familie wieder in Wien trifft. Von der durcheinanderwirbelnden Menge der ersten Szene sind drei Personen übrig: Nathan, der Auschwitz überlebt hat, Rosa, die schon vor dem Krieg in die USA gezogen ist, und Leonard - ein junger Brite, der von seiner Familiengeschichte fast nichts weiß.

Heiter im Salon (v. l.): Martina Stilp, Herbert Föttinger, Susanna Wiegand, Susa Meyer, Marianne Nentwich. - © Moritz Schell
Heiter im Salon (v. l.): Martina Stilp, Herbert Föttinger, Susanna Wiegand, Susa Meyer, Marianne Nentwich. - © Moritz Schell

Und das ist der Stückautor Tom Stoppard. Also zumindest seine dramatisierte Version. Denn er selbst, in Mähren geboren, war mit acht Jahren nach England gekommen. Sein Vater war ein jüdischer Betriebsarzt der Bata-Schuhfabrik, sein Stiefvater jedoch ein stolzer britischer Offizier. Die jüdische Herkunft war kein Thema, erst in der zweiten Lebenshälfte erfuhr er, dass alle Großeltern und drei Tanten in den Konzentrationslagern ermordet worden waren. Die vielgestaltige Frage nach der jüdischen Identität, die vor allem das erste Drittel des Stücks beherrscht, ist denn auch der gelungenste Teil. Juden, die keine mehr sein wollen, ihre christlichen Ehefrauen, die sich als Ausgleich dazu im Alten Testament versenken. Meistens freilich lässt einen "Leopoldstadt" aber ratlos zurück. Nicht, weil man nicht verstehen würde, was auf der Bühne passiert. Im Gegenteil, kaum etwas hat man schon öfter gesehen. Denn dieser panoramahafte Zeitraffer durch die österreichische Geschichte erinnert in seiner Harmlosigkeit mehr an die alte Serie "Ringstraßenpalais" denn an Vergangenheitsbewältigung, die man hierzulande im Theater gewöhnt ist. Anders gesagt: Es ist vielleicht gar nicht anders möglich, als dass für Österreicher die Geschichtsstunde eines Briten über Österreich ein bisschen flach daherkommt. Sie hinterlässt den Eindruck einer Liste von abgehakten Stichwörtern.

Namedropping

Dazu kommt, dass der Aufbau des Stücks mit seinem Namedropping (Mahler, Schnitzler, dem die ersten Bilder mitsamt Affäre, Negligee und Duellgefahr zu Beginn sogar nacheifern) und dem Spuren-Legen (Maria Köstlinger, die am Anfang als Gretl "für ein Porträt sitzt", tut dies für Klimt, was am Ende auch das Restitutionsthema aufwabern lässt) trotz der gigantischen Fülle an Handelnden recht simpel gestrickt ist. Regisseur Janusz Kica gelingt es auch nicht, das große Ensemble so zu führen, dass einzelne Personen respektive Schauspieler aus der Beliebigkeit hervortreten können. Das ist fatal, weil die ohnehin schon nicht sehr differenziert herausgearbeiteten Figuren so zu einer verwechselbaren Gruppe verschwimmen. Maria Köstlinger, Raphael von Bargen, Sona MacDonald und Marcus Bluhm wehren sich wacker gegen dieses Schicksal. Manches ist hier so anachronistisch, dass es wie aus dem (Stadt-)Theatermuseum wirkt: ein jiddelnder Herbert Föttinger oder der kurze Beschneidungsklamauk Stichwort Zigarrenschneider. Fast drei Stunden plätschert diese Familienchronik dahin und ihr größtes Manko ist: Sie berührt nicht und sie wühlt schon gar nicht auf.