Letzte Werke haben, wenn sie Bewusstsein eines Abschieds geschrieben werden, immer etwas von einem Vermächtnis. So war es auch bei "Death in Venice" ("Der Tod in Venedig") von Benjamin Britten. Die Oper hat am Samstag, 14. Mai, in der Wiener Volksoper Premiere - dankenswerter Weise in deutscher Sprache, denn selten ist es so wichtig, die Nuancen der Worte in Bezug zur Musik ungefiltert durch Übertitel zu verstehen.

Britten begann 1970 die Arbeit an seiner Oper "Death in Venice". Er war 57 Jahre alt und galt nicht nur als der bedeutendste Komponist Großbritanniens seit der Barock-Ära, sondern auch als der international wichtigste Opernkomponist seiner Zeit. 

Dass Britten homosexuell war und in einer eheähnlichen Beziehung mit seinem berufensten Interpreten, dem Tenor Peter Pears, lebte, war ein offenes Geheimnis. Weniger bekannt war, dass Britten, der einen durchtrainierten Eindruck machte, leidenschaftlich Tennis spielte und frühmorgendliche Bäder im Meer liebte, schwer herzkrank war. Brittens Biograf Paul Kildea vermutet als Ursache dafür eine unbehandelte Syphilis-Infektion.

Die vielen Rollen des Gegenspielers

Um 1970 begann nun Britten, der Zeit seines Lebens immer wieder kränkelte, zu spüren, dass seine Kräfte nachließen. Umso mehr wollte er eine letzte große Opernrolle für Pears schaffen, die zugleich ein Manifest ihrer Beziehung sein sollte.

Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig" scheint auf den ersten Blick ungeeignet als Opernstoff. Doch Myfanwy Piper erstellte ein überzeugendes Libretto. Sie war die Frau des englischen Malers John Piper, der auch als Bühnenbildner tätig war und einige Opern Brittens mit seinem persönlich weitergeführten Expressionismus ausgestattet hatte.

Myfanwy Piper hatte aus Jacques Offenbachs Oper "Hoffmanns Erzählungen" eine brillante Idee übernommen: Sie stellt der Hauptgestalt einen Widersacher gegenüber, der in zahlreichen Verwandlungen auftritt. Der alternde Schriftsteller Gustav von Aschenbach ist als Tenor Peter Pears zugedacht gewesen, der Widersacher, in der Uraufführung verkörpert vom Bariton John Shirley-Quirk, tritt auf etwa als Reisender, als "ältlicher Geck", als Gondoliere, als Friseur: Immer ist er es, der Aschenbach zu einem Schritt näher an den Abgrund verleitet.

Dieser Abgrund steht in engem Zusammenhang mit Tadzio, der in der Oper von einem Tänzer dargestellt wird.

Die Handlung

Die Handlung von Brittens Oper: Ein gespenstischer Reisender setzt dem unter einer Schreibblockade leidenden Aschenbach den Floh ins Ohr, er könne in Venedig neue Inspiration finden. Auf der Überfahrt beobachtet Aschenbach einen ältlichen Gecken, der sich, auf jung geschminkt, mit jungen Menschen umgibt.

Ein "Gondoliere ohne Lizenz" rudert Aschenbach zu seinem Hotel - als wäre es eine Fahrt über den Styx.

Jetzt verliebt sich Aschenbach in Tadzio, den Sohn einer im selben Hotel abgestiegenen polnischen Familie. Erst gesteht er sich selbst nicht seine Gefühle ein. In einer Vision sieht er einen vom griechischen Gott Apollo ausgerichteten Wettkampf, den Tadzio gewinnt. Aschenbach schweigt gegenüber Tadzio, gesteht sich aber erstmals selbst seine Gefühle ein: "Ich liebe dich."

Im zweiten Akt lässt sich Aschenbach vom Friseur kosmetisch verjüngen. Doch nach wie vor nimmt er zu Tadzio keinen Kontakt auf und beobachtet ihn nur. Als fahrende Sänger mit einem anzüglichen Lied auftreten, bezieht er dessen Inhalt auf sich und fühlt sich verspottet. Immer stärker wird er zerrissen von seinen Begierden einerseits und andererseits seiner Selbstdisziplin, die er aus dem apollinischen Prinzip abbleitet, während er glaubt, sich dem dionysischen Prinzip durch Willenskraft verweigern zu können.

Als Aschenbach nun erfährt, dass in Venedig die Cholera wütet, überlegt er, die polnische Familie zu warnen. Er unterlässt es jedoch, da er dadurch Tadzio verlieren würde. Auch er selbst, gerade noch abreisewillig, kehrt um: Er kann sich von Tadzio nicht lösen.

Abermals hat Aschenbach eine Vision: Apollo und Dionysos streiten über ihre Vorherrschaft. Apollo unterliegt.

Aschenbach begegnet Tadzio, der kurzzeitig von seiner Familie getrennt ist. Abermals ist der Schriftsteller unfähig zu einer Äußerung.

Aschenbach kauft von einer Straßenhändlerin Erdbeeren, er kostet sie, sie sind überreif und faulig.

Während die polnische Familie die Abreise vorbereitet, spielt Tadzio mit anderen Kindern am Strand. Aschenbach sieht vom Liegestuhl aus zu. Es entsteht ein Streit, Tadzio wird niedergerungen und gedemütigt. Aschenbach will ihm zu Hilfe eilen, sinkt aber, an Cholera erkrankt, sterbend zurück.

Das Thema fand den Künstler

Mitunter sucht ein Künstler nicht ein Thema, sondern wird von einem Thema gefunden. So ist es hier. Brittens "Death in Venice" ist voller autobiografischer Anspielungen und homoerotischer Signale. Wie Britten damit umgeht, verleiht diesem Werk etwas Dunkles, teilweise sogar Unangenehmes.

Um zu ermessen, wie weit das geht, muss man Brittens angeschlagene Gesundheit bedenken. Eine Herzoperation war unumgänglich geworden. Britten zögerte sie viel zu lange hinaus - er fürchtete, er könnte dabei sterben, ohne dieses letzte Werk fertiggestellt zu haben. Angesichts dieser angeschlagenen Gesundheit und seinen extremen physischen Problemen beim Dirigieren, war Britten klar, dass er die für sein Aldeburgh Festival des Jahres 1973 geplante Uraufführung nicht mehr selbst würde dirigieren können. Hoffte Britten, es wäre ihm möglich, wenigstens als Pianist daran teilzunehmen und Aschenbachs Meditationen, mit simplen Klavierfiguren gestützt, selbst zu begleiten?

Alles an diesem Werk ist zutiefst verstörend: Da ist einerseits Aschenbach, von Britten also zukomponiert auf seinen Lebensgefährten Peter Pears. Doch seinen  Part stattet Britten nicht nur mit eigenartigen Verrenkungen aus, die sich wie eine Parodie von Pears' vokalen Manierismen ausnehmen: Dieser Aschenbach ist zudem zutiefst unsympathisch, ein verklemmter Lüstling, der sich nur in den Meditationen mit Klavierbegleitung entspannt. Britten war in vielen Liederabenden der Klavierbegleiter von Pears. Signalisiert er hier ein letztes Zusammensein, während Pears ohne Britten, also orchesterbegleitet, zur jämmerlichen Gestalt verkommt?

Signale und böse Momente

Überall Signale: Tadzio, ein Tänzer, wird von den Klängen eines stilisierten balinesischen Gamelan mit prominentem Vibraphon, dem längsten Solo-Vibraphonpart der Operngeschichte, begleitet - ist das nur eine Reminszenz an Brittens Fernostreise? Oder geht es um kindliche Schönheit und verbotenes Begehren? Dass Britten pädophile Neigungen hatte, weiß man, seit es Humphrey Carpenter in seiner umfangreichen Britten-Biografie 1992 aufgedeckt hat. Apollo ist ein Countertenor, also ein Mann, der quasi mit einer Frauenstimme singt. Die Frau, die Aschenbach die fauligen Erdbeeren verkauft, hat ein bittersüß harmonisiertes Thema voller verführerischer Italianità - Madame la Mort im Gewand der Straßenhändlerin mit dem Aphrodisiakum, das den Tod bringt?  

Andere böse Momente: Wenn Aschenbach zu Beginn der Oper seine Schreibblockede thematisiert ("My mind beats on, and no words come"), basiert dieser Abschnitt auf einer Zwölftonreihe - setzt Britten die Dodekaphonie mit Einfallslosigkeit gleich? Das Klangbild jedenfalls überzeugt.

Brittens modernste Oper

Die Partitur, für ein größeres Kammerorchester mit umfangreichem Schlagzeug instrumentiert, ist voll von Straßenrufen und Gondolierestimmen, doch alles ist wie im erstickenden Nebel. Die Tuba mischt einen dumpfen Klang hinein, der die Cholera symbolisiert. "Man hört Venedig stinken", meinte ein Kommentator nach der Uraufführung.

Insgesamt ist "Death in Venice" Brittens modernste Oper, sieht man vom vorangegangenen "Owen Wingrave" ab. Störtöne, Dissonanzen und Tonartenüberlagerungen höhlen die Tonalität aus, nur beim Anblick der Lagune rauscht das Orchester noch einmal mit allem klanglichen Luxus auf, mit dem Britten seit seinen frühen Werken das Meer ausstattete.

Am berührendsten ist das orchestrale Nachspiel: In die mahler-nahe Trauermusik auf Aschenbach mischt das Vibraphon Tadzios Girlanden. Auf einem letzten Ton verschmilzt beides. Dieser letzte Ton ist ein A, als Grundton in Moll die Tonart der Trauer, in Dur die der Liebe.