Vier kleine Hans Castorps mühen sich den Berg hinauf. Vetter Joachim ist ihnen ein riesiger Begleiter, sein Gesicht ist nämlich auf den Berg projiziert. Er ist der Berg, den die vier Castorps besteigen. So beginnt die Bühnenversion von Thomas Manns "Der Zauberberg" von Bastian Kraft im Burgtheater, die sich als echter Glücksfall entpuppt. Markus Meyer, Felix Kammerer, Dagna Litzenberger Vinet und Sylvie Rohrer spielen allesamt den jungen Mann, der in Thomas Manns monumentalem Roman kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einem Alpensanatorium seine Zeit verliert. Und sie spielen alle anderen wundersamen bis wunderlichen Figuren in dieser siechen Gesellschaft. In Fleisch und Blut auf der Bühne, im zerklüfteten Gebirge aus Kassettentüren und Sanitär-Fliesenwand (Bühne: Peter Baur), bleibt freilich immer nur Hans. Alle anderen werden auf Video (Sophie Lux) eingespielt, auf den zur Leinwand gewordenen Felsen. Eine geniale Idee Krafts, die die schwelende Traumhaftigkeit von Castorps Aufenthalt gut verbildlicht und zugleich ganz pragmatisch die Verdichtung der 1.000 Buchseiten auf gute zwei Stunden Spielzeit ermöglicht.

Grandezza und Homoerotik

So lernt Hans sein Umfeld für die kommenden sieben Jahre kennen: Die Tischgesellschaft von Joachim etwa, mit Frau Stöhr, die Markus Meyer als eine Art Fin-de-Siècle-Dragqueen (Kostüme: Jelena Miletic) verkörpert. Den italienischen Intellektuellen Settembrini, dem Sylvie Rohrer eine Opernsänger-Grandezza verleiht. Die von Hans verehrte Clawdia Chauchat, die man immer nur von hinten oder kess über die Schulter schauend sieht. Dass sie von Felix Kammerer gespielt wird, unterstreicht die homoerotische Komponente dieses Schmachtens - sie erinnert Hans ja an einen angehimmelten Mitschüler. Kammerer ist außerdem als Peeperkorn, der Mann, der gegen Ende als Clawdias Begleiter Hans’ Warten auf dieselbe mit trefflicher Sinnlosigkeit erfüllt. Was auf der Bühne nicht oder nur albern funktionieren könnte - dass ein Schauspieler zwei Figuren in einer Szene spielt -, macht der Videoeinsatz möglich. Besonders eindrücklich gelingt das in den Dialogen, die Sylvie Rohrer als demokratieverteidigender Settembrini und als den Krieg herbeisehnender Naphta mit sich selbst führt. Es sind Streitgespräche, die den Geist jener Zeit elegant auf den Punkt bringen - und ganz ohne interpretatorischen Holzhammer mit geschickt ausgewählten Zitaten ("Gängelei durch sogenannte Fakten") auch einen Bogen in unsere Gegenwart schlagen.

Viermal Castorp: am Gipfel Sylvie Rohrer, im Uhrzeigersinn Dagna Litzenberger Vinet, Felix Kammerer, Markus Meyer. Groß projiziert Litzenberger Vinet als Joachim. 
- © Marcella Ruiz Cruz

Viermal Castorp: am Gipfel Sylvie Rohrer, im Uhrzeigersinn Dagna Litzenberger Vinet, Felix Kammerer, Markus Meyer. Groß projiziert Litzenberger Vinet als Joachim.

- © Marcella Ruiz Cruz

Die ganz großartig gestalteten Masken von Lena Damm lassen die Figuren - Dr. Krokowski zum Beispiel hat die Anmutung eines frühen Star-Trek-Romulaners - manchmal ein wenig wie Karikaturen wirken. Meyers ironisches Spiel etwa bei Anstaltsarzt Behrens unterstützt den Eindruck - der auch legitim ist, kann man Manns "Zauberberg" doch als Parodie auf den klassischen Bildungsroman lesen.

Das Gesicht des Abends ist aber Dagna Litzenberger Vinet als Joachim: die einzige gequälte Person unter den in den Untergang hineinlebenden Sonderlingen, denen es nichts ausmacht, ihre Zeit als "Horizontale", wie Behrens sie nennt, zu verplempern. Wie der Roman diesen sich ausdehnenden und sich selbst auffressenden Begriff von Zeit behandelt, rettet Kraft in ein paar geglückten Gags auf die Bühne. Etwa wenn Hans sieben Minuten lang Fieber messen muss. Und auf der Bühne tatsächlich einige Minuten nichts anderes passiert, als dass vier Schauspieler mit Thermometer im Mund mal selbstbewusst, mal ängstlich, mal ungeduldig warten. Ob es ganze sieben Minuten waren? Wohl kaum. Es kann einem aber durchaus so vorkommen, auch wenn es nur zwei waren. Nicht die einzige geniale Verknappung an diesem Abend.

Simpel, aber effektiv

Castorps "Schneetraum", der ihn zur Einsicht kommen lässt, dass er den Tod aus seinem Leben verbannen will, inszeniert Kraft als tatsächlichen Gang in die Tiefe - mit Handheld-Kamera in den Bauch des Burgtheaters. Ein simples, aber effektives Bild. Das ist vielleicht das Geheimrezept dieses Abends, der eine der gelungensten Literaturdramatisierungen bietet. Eine unterhaltsame Verdichtung, die die Tentakel des ausufernden Romans einfängt und den Kern des "Zauberbergs", der sehr eigentlich ein bestimmtes Gefühl ist, pointiert vermittelt. Und auch das Kunststück vollbringt, dass man dieses Stück und diese Empfindung hier erfassen kann, ohne das Buch überhaupt gelesen zu haben.