Es fährt einem durch Mark und Bein, als Tony zum x-ten Mal mit hochgezwirbelter, pathetisch gedrungener Stimme "Mariiiia!", den Namen seiner Angebeteten, schreit. Man leidet mit, jedoch aus den falschen Gründen: nicht vor mitfühlender Rührung, sondern aus leichtem Unwohlsein ob der dargebotenen schauspielerischen Leistung. Die Gänsehautmomente sind in dieser Neuinszenierung des Musicals "West Side Story" vom US-amerikanischen Musicalregisseur Lonny Price rar, zu unecht und gekünstelt wirkt das aufgescheuchte Geschehen auf der Bühne.

Die Dialoge könnten wahlweise einem Disney-Film oder einem B-Movie entstammen. Natürlich sind die Texte stark durch das Original dieses Bühnenklassikers bestimmt; die Inszenierung unternimmt jedoch nichts gegen das platte Pathos, sondern verstärkt es durch leidenschaftsloses Spiel - besonders vom männlichen Hauptdarsteller Jadon Webster, dem es nicht recht gelingen will, ernst gemeintes Gefühl zu vermitteln. Statt dass die Funken sprühen, trieft es nur so vor künstlichem Kitsch, manchmal im Verbund mit einer unfreiwilligen Komik.

Mutlos statt modern

Diese Version des 1957 am Broadway uraufgeführten Bühnenklassikers von Leonard Bernstein, Stephen Sondheim, Arthur Laurents und Jerome Robbins kommt völlig mutlos daher. Als "modern" kann man sie partout nicht bezeichnen - sie traut sich nicht, dem 50er-Jahre-Setting ein zeitgemäßes, unkonventionelles Überraschungsmoment hinzuzufügen. Es raufen die Männer, und die Frauen probieren hübsche Kleider an. Vor allem Ersteres ist natürlich ein unerlässliches Element der Erzählung, dennoch hätte man die Gruppen umfassender divers gestalten und dem segregierten Treiben eine aktuelle Note verpassen können. Die Grundthematik der "West Side Story" - nämlich rassistische, kulturelle und klassenspezifische Grenzen zu überwinden - ist nach wie vor relevant; das verhilft auch dieser Inszenierung zumindest zu einem Hauch von Aktualität.

An den Kampfszenen merkt man besonders den notorischen Hang zur Künstlichkeit, der hier besonders konsequent umgesetzt wird. Der Spagat zwischen leichtfüßigem, einstudiertem Tanz und viril-wildem Nahkampf will einfach nicht gelingen: Die beiden Bewegungsformen vertragen sich nicht und sorgen in Kombination für unbeabsichtigte Komik. Vom Authentizitätsfaktor her kommen diese Raufereien der legendär-lachhaften Kampfszene zwischen Captain Kirk und The Gorn in der TV-Serie "Raumschiff Enterprise" mitunter gefährlich nahe - ohne je wirklich gefährlich zu wirken.

Das aufgewühlte und oft übertriebene Spektakel wird von einem unaufgeregten Orchester unter der Leitung von Grant Sturiale begleitet, das Bernsteins Musik zwischen Swing-Jazz, lateinamerikanischem Tanz und Operntonfall mit Feingefühl und Dynamik interpretiert. Rücksichtsvoll und behutsam gibt es den Stimmen des Ensembles Raum. Melanie Sierra glänzt als Maria, indem sie sich siegessicher vokal in jähe Höhen wagt, was schlussendlich Gänsehaut verursacht. Gleichwohl wünscht man sich statt den Vibrato-Exzessen, an denen vor allem bei Balladen wie "Tonight" und "Somewhere" erwartungsgemäß nicht gespart wird, mehr Farbe und persönliche Note in den sonst so verwechselbaren Stimmen.

Dass über den musikfreien Szenen des Abends eine seltsame, völlig spannungslose Stille liegt, hat wohl auch mit dem Ausbleiben jeglichen Humors zu tun und der sterilen Sinnlichkeit zwischen den Darstellern - Mängel, die eine Identifikation mit den Figuren nahezu unmöglich machen. Auch das Bühnenbild wirkt eher unambitioniert und sorgt mangels Abwechslung nach gewisser Zeit für ein fades Aug.

Nach ungefähr zwei Stunden hat das eher seichte Spektakel, dem man für einen Preis zwischen 42 und 70 Euro beiwohnen kann, ein ersehntes Ende.