Jürgen Flimm, der als Regisseur und Intendant das deutsche Schauspiel und international das Musiktheater geprägt hat und Intendant der Salzburger Festspiele war, ist im Alter von 81 Jahren gestorben.

Ein Charakterkopf: Hohe Stirn, Bart, die Augen hinter der Brille mit stoischem Ausdruck, der blitzschnell in ein einzigartiges Lachen umschlagen kann. Eine unverwechselbare Erscheinung war Jürgen Flimm.

Als er 1978 Luigi Nonos "Al gran sole carico d’amore" an der Oper Frankfurt inszenierte, gehörte es noch keineswegs zum guten Ton, dass Schauspiel-Regisseure auch Oper machen. Auch, dass Nonos Werk keine Oper im herkömmlichen Sinn ist, in ihrer Dramaturgie kein Nachfolger von Mozart oder Verdi, war ein ungültiges Argument. Doch Flimm erkannte das Bühnenpotenzial des Werks. Dafür hatte der am 17. Juli 1941 in Gießen geborene Arztsohn eine Nase.

Der Praktiker

Ganz von der Praxis kam er her, dieser Jürgen Flimm. Sein Vater, der als Hobby an Theatern mitarbeitete, hatte ihn mit der Bühnenluft vertraut gemacht. Nach dem Abitur hatte Jürgen Flimm dann in Köln Theaterwissenschaft, Literaturwissenschaft und Soziologie studiert und an der Studiobühne Köln, die zur Universität gehörte, erste prakltische Erfahrungen gesammelt, die er an der "Studiobühne am Germanistischen Seminar der Uni-Bonn" ausbaute.

Experimente standen am Anfang, etwa "Bewegungen II 24'", ein Theater-Musik-Hybrid des Komponisten Johannes Fritsch, dem Flimm 1963 an der Bühne für sinnliche Wahrnehmung assistierte. Von unten an hinaufdienen, das war Flimms Weg, den er konsequent ging: 1968 Regieassistent an den Münchner Kammerspielen, ab 1971 erste eigene Inszenierungen; dann geht es schneller: 1972 Spielleiter am Nationaltheater Mannheim, 1973 Oberspielleiter am Thalia Theater Hamburg. 1979 bis 1985 leitet Flimm als Intendant das Schauspielhaus der Stadt Köln und von 1985 bis 2000 als Intendant das Thalia Theater Hamburg.

Zweimal wird Flimm der Nachfolger von Gérard Mortier: einmal direkt, als er von 2005 bis 2007 die von Mortier gegründete RuhrTriennale übernimmt, einmal indirekt, als er von 2006 bis 2010 die Salzburger Festspiele leitet, deren Intendant Mortier 1991 bis 2001 gewesen war.

Darüber hinaus lehrte Flimm an der Harvard University, an der New York University und an der Universität Hamburg.

"Toleranz, Geduld, Nachsicht"

Dass Flimm die Salzburger Festspiele etwas früher als geplant verließ, hatte Gründe in der Mentalität des Intendanten und Regisseurs. Der überzeugte Protestant sagte einmal in der Zeitschrift "Chrisom", Glaube bedeute für ihn Toleranz, Geduld, Nachsicht. Er war am Theater ein Überzeugungstäter - auch im Verständnis, dass er von seiner Überzeugung überzeugen wollte, die Mitwirkenden wie das Publikum. Er war humorvoll und kompromissbereit, vielleicht sogar harmoniesüchtig. Als Regisseur konnte er so arbeiten - als Intendant rieb er sich damit auf. In einem späteren Interview bezeichnete er die Salzburger Festspiele als einen "Intrigantenstadl, dessen wichtigster Trick es ist, dass keiner erkennt, woher die Intrigen kommen".

In einem Dramolett stilisierte sich Flimm einmal zum lustvollen Schmerzensmann der Bühne. Der Kampf, den er mit sich und den Mitwirkenden um ein Stück austrug, war ihm eine Lust. "Ich war immer an der Innensicht der Texte interessiert", sagte er in einem Interview zu seinem 80. Geburtstag dem NDR: "Was kann man aus den Texten herausholen, wie kann man die Zuschauer mitnehmen auf so einer Reise?"

Das gelang ihm mit seinen Interpretationen sehr oft. Zwar konnte er das Publikum schon auch vor den Kopf stoßen. Dennoch: Es war an Flimms Lesarten, etwa von Tschechow-Stücken wie "Onkel Wanja" und "Platonow", mit denen er dem Thalia-Theater internationale Aufmerksamkeit sicherte, immer etwas dran. Er erzählte Raimunds "Bauer als Millionär" und Nestroys "Mädel aus der Vorstadt" völlig anders - und doch so, dass er selbst konservative Zuschauer überzeugte, sofern sie bereit waren, sich darauf einzulassen.

Im Jahr 2000 inszenierte er bei den Bayreuther Festspielen den sogenannten "Millenniums-,Ring'" mit Giuseppe Sinopoli am Pult als eine Parabel über den Kampf um Macht. Traditionsverbundene Wagnerianer stießen sich daran, dass Flimm am Schluss der "Götterdämmerung" Hagen in das von Brünnhilde gehaltene Schwert laufen und dann den Gralsritter Parsifal auftreten ließ als Symbol der Hoffnung auf eine bessere Welt. Doch die meisten Zuschauer waren überzeugt, den tiefschürfendsten und auch theatralisch besten "Ring" seit der Deutung duch Patrice Chéreau (1976) erlebt zu haben.

Bleibendes beitragen

Doch zum Kulturmanager aus vollem Herzen ist der Regisseur Jürgen Flimm nie geworden. Er hat diese Arbeit immer nur übernommen, wenn es ihm um etwas ging, wenn er überzeugt war, etwas verbessern, einen wesentlichen Beitrag leisten zu können. Das war bei den Salzburger Festspielen so, die ihm das "Young Director's Project" verdanken, und auch 2010, als er die Intendanz der Berliner Staatsoper übernahm und das Haus durch die schwierige Renovierungsphase mit unverschuldet explodierenden Kosten führte. Er blieb bis zur Eröffnung 2017, danach zog er sich zurück und arbeitete nur noch als freier Regisseur.

Gesundheitlich durch Unfälle und Herzprobleme angeschlagen, arbeitete Flimm dennoch unermüdlich weiter. 2013 erlitt er einen Schlaganfall. 2019 trug ihm ein Reitunfall einen doppelten Oberschenkelhalsbruch samt folgenden lebensbedrohlichen Komplikationen ein. Flimm sprang, so sagte er, dem Tod gerade noch einmal von der Schippe.

Die Kunst allgemein und die Bühne speziell waren sein Lebensmotor. Eine Und er hat seine Autobiographie geschrieben: Die Erscheinung von "Mit Herz und Mund und Tat und Leben" war für 2025 geplant. Nun muss sie posthum erfolgen. Doch vielleicht passt auch das - als letzte Inszenierung eines großen Theatermanns.