Richard Chen See, Tänzer und heute weltweiter Vermittler und Einstudierer von Paul Taylors (1930-2018) Stücken, bringt dessen malerisches Werk "Promethean Fire" in der Premiere von Samstag, 11. Februar, auf die Bühne der Volksoper. Im Gespräch erklärt er, weshalb Taylors Stücke die Tanzgeschichte prägten, von Taylors choreografischer Handschrift und dass 9/11 nicht Inspiration, aber auslösendes Moment für "Promethean Fire" war.

"Wiener Zeitung": Sie haben 15 Jahre in Paul Taylors Kompagnie in New York getanzt. Wie sind Sie eigentlich zum Tanz gekommen?

Richard Chen See:Ich bin in Jamaika aufgewachsen und meine Sportlehrerin fragte mich, ob ich an einem Balletttraining mitmachen wolle. Und ich habe nie wieder aufgehört. Ich war sieben Jahre alt.

Und wie kamen Sie von Jamaika zu Paul Taylor?

Als ich 15 Jahre alt war, verließ ich Jamaika, um in London an der Royal Academy meine Ballettausbildung zu machen. Da ich im Royal Ballet aufgrund meiner Größe im Abschlussjahr keinen Vertrag erhielt, ging ich zum Northern Ballet Theatre. Ich reiste viel und bekam dann nach Jahren unterschiedlicher Engagements eine Green Card, eine Aufenthaltserlaubnis für Ausländer in den USA. Ich war dann freiberuflich tätig. Schließlich habe ich bei Paul Taylor vorgetanzt.

Paul Taylor ist ein bekannter Name in der Tanzwelt. Dennoch ist die kommende Premiere das erste Stück von ihm, das in Wien gezeigt wird. Aus welchen Gründen ist Paul Taylor so wichtig für die Tanzgeschichte?

Viele der Tänzer, die seine Zeitgenossen waren, waren die Pioniere des modernen Tanzes in Amerika. Und so tanzte er auch an der Seite von Martha Graham, Merce Cunningham, José Limón oder Doris Humphrey. Taylor war der Regelbrecher des Modern Dance. Denn Martha Graham hat ihre Technik entwickelt, ebenso Limón oder auch Cunningham. Taylor hat keine eigene Technik, aber eine ästhetische Perspektive, für die er alle Techniken verwendet, die es gab: Neben dem Ballett ließ er sich von Gesellschaftstänzen und Tango inspirieren. Taylor war eigentlich ein Maler, der mit seiner Arbeit kinetische Bilder entwarf, ohne dies als sein Vokabular zu bezeichnen.

Sie sagten eben, dass Taylor keine spezielle Technik entwickelte, was ein Erkennungsmerkmal für seine Werke wäre. Wie erkennt man seine choreografische Handschrift?

Es sind zwei Dinge: einerseits die Musikalität. Er wollte keine formelle Musik lernen. Aber er reagierte choreografisch auf das, was er hörte. Deshalb griff er musikalische Sequenzen auf, die einem als Publikum die Musik anders hören und sehen lassen. Der zweite Punkt ist, dass Taylor in seinen Stücken Drehungen und Sprünge verwendet, manchmal sehr schnell, manchmal sehr langsam. Im Gegensatz zum Ballett, in dem man wie ein Bleistift dreht, sollen diese Pirouetten ähnlich einem Gummiband sein. Das erreicht man durch eine spezielle Verwendung der Wirbelsäule, des Rückens, während der dynamischen Bewegung. Für ihn sind die Arme eine Verlängerung des Rückens und der Brust. Es hat den Anschein einer leichten Bewegung, auch Tänzer glauben das oft. Bis zur ersten Probe. (lacht)

Welche Talente muss ein Paul-Taylor-Tänzer haben?

Das Gleichgewicht besteht darin, sehr gut ausgebildete Tänzer zu haben, die auch wie eine individuelle selbstbewusste Person sein sollen. Und die Bereitschaft, sehr offen und verletzlich zu sein. Ich möchte nicht, dass die Tänzer in den Bewegungen einander ähnlich sehen.

Ist das nicht schwierig in einer Kompagnie, die im klassischen Ballett ausgebildet ist?

Das ist es nicht, denn die meisten sind nicht an den gleichen Schulen ausgebildet und haben deshalb unterschiedliche Ansätze für den selben Schritt. Manche verwenden etwa ein gestrecktes hinteres Knie in der Pirouette, manche gehen aus der vierten Position mit gebeugtem Knie hinein. Allein diese kleinen Unterschiede machen es schon aus. Und ich bin nun 60 Jahre alt, aber noch fit genug, um zu demonstrieren, wie eine Idee aussehen soll. (lacht)

Das Staatsballett wird also Taylors "Promethean Fire" zeigen, das Sie mit der Kompagnie einstudieren. Worum geht es?

"Promethean Fire" wurde 2002 uraufgeführt. Es geht um Resilienz, um die Wiederherstellung nach einer Katastrophe. Nun gut, ich werde Ihnen die Entstehungsgeschichte erzählen: Von unseren New Yorker Studios aus sah man direkt zum World Trade Center. Am 11. September 2001 konnten wir sehen, wie die Katastrophe passierte. Aufgrund der Ereignisse hatte Taylor das Gefühl, dass es nun ein Stück braucht, das alle Tänzer vereinigt. Üblich war das in der 16-köpfigen Kompagnie nicht, denn meist waren einige als Zweitbesetzung gecastet. Es gibt ja immer wieder Verletzungen. Aber wegen des Timings und der Genesis glauben die Leute, es sei Taylors Antwort auf 9/11. Wenn Taylor festgelegt hätte, dass es eine Performance über 9/11 wäre, dann hätte sich das Publikum darauf konzentriert, etwa die Terroristen oder ähnliche Anhaltspunkte zu suchen. Zwei ikonische Aspekte findet man: das Geh-weg und Komm-zurück. Wir suchen nach solchen binären Ideen. In "Promethean Fire" gibt es binäre Interaktionen von Menschen, aber auch ein einzelnes Paar, das den Kampf um seine Kommunikation veranschaulicht. Wie kommt man zusammen und wie arbeitet man harmonisch zusammen? Der Höhepunkt ist also, dass sie anfangen, andere Paare miteinzubeziehen. Man sieht, dass die gesamte Kompagnie als Gruppe arbeitet und sich nicht in binäre Ideen verflüchtigt. Ein sehr kurzweiliges Stück, und man hat das Gefühl, dass es eben erst begonnen hat, wenn es zu Ende geht.