Bedrohliche Trommelschläge als Ouvertüre. Der Vorhang öffnet sich, gibt eine hohe Mauer frei, eine Menschenmenge davor versucht, sie durchbrechen. Die Menschen scheitern, doch Choreograf Akram Khan hat mit der aktuellen Version des romantischen Balletts "Giselle" das Publikum vom ersten Augenblick an in Bann geschlagen.
Die Handlung des Balletts folgt der Handlungsstruktur des Originals, 1841 in der Pariser Oper uraufgeführt. "Giselle", getanzt zur Musik von Adolphe Adam, erzählt nicht von Märchenfiguren, sondern von realen Menschen, dennoch geht der Mythos nicht verloren. Auch wenn Khan die Geschichte von romantischer Liebe und Verrat, von den Wenigen, die die Vielen beherrschen, ins 21. Jahrhundert versetzt, lässt auch er im 2. Akt die Geister tanzen.
Höfisch ausstaffiert, kommen die Oligarchen aus ihrem Ghetto, das Volk muss für sie tanzen. Nur Giselle beugt nicht die Knie vor der Fabrikantentochter in Samt und Seide. Noch weiß sie nicht, dass es die offizielle Braut "ihres" Albrechts ist.
Große Oper
Akram Khan liebt die große Oper, das üppige Kino mit schönen, einprägsamen Bildern. Doch zeichnet er auch die Charaktere der drei Protagonisten - Giselle, die ihre Arbeit verloren hat, doch nicht ihren Stolz, der schmierige Albrecht, einer von der anderen Seite, der sich an die junge Frau herangemacht hat, und der Zornbinkel Hilarion, vergeblich verliebt in Giselle - mit scharfen Konturen. Er weiß aber auch ein großes Ensemble zu bewegen. Mit rhythmisch stampfende Füßen, zum Kampf gereckten Armen führen die Frauen ihren Volkstanz auf, während das männliche Corps, als Herde wild gewordener Mustangs im Galopp über die Bühne rast. Khatak beherrscht die Ensembleszenen, im ersten Akt auch von den Damen mit weichen Schuhen, im 2. auf Spitze getanzt. Kathak ist ein aufwühlender Tanz, die Füße treten in den Boden, doch die springenden Körper negieren die Schwerkraft, die Arme recken sich empor, Hände flattern, Finger flirren, die rhythmische Musik lässt Aufruhr ahnen. Hilarion deckt Albrechts Geheimnis auf, der Betrüger schleicht sich davon, zurück in sein Revier. Wenn am Ende des 1. Aktes der Vorhang fällt, ist Giselle tot.
Akram Khans Choreografie besticht durch eine klare Struktur, beeindruckende Bilder und die gelungene Mischung von zeitgenössischem Tanz, Spitzentanz und indischem Khatak, perfekt unterstützt vom Sounddesign Vincenzo Lamagnas. Wie der Choreograf in den Tanz, flicht auch der Komponist Erinnerungen und Anklänge an das Original in die Orchestermusik, gemischt mit elektronischen Klängen.
Nach der Pause treiben die Geister der betrogenen Frauen ihr unheimliches Wesen in einer verlassenen Fabrik. Giselle gehört jetzt zu den Willis, die mit spitzen Stöcken bewaffnet, ihre Präsenz verkünden. Kein Mondenschein, keine lieblich schwebenden Ballerinen tanzen in den Ruinen. Die Röcke sind ausgefranst und schmutzig, die Spitzenschuhe wühlen lautstark den Boden auf, bedrohlich werden die Speere geschwungen. Es sind Hexen, die ihren Sabbat feiern, indem sie Hilarion in einem Käfig aus Stäben tanzen lassen, bis er tot umfällt. Albrecht muss nicht sterben. Nach einem großartigen Pas de deux mit dem filigranen Geist Giselles darf er gehen, auch wenn er nicht weiß wohin. Giselle entwindet Myrtha den Speer, mit dem diese Albrecht ins Herz stechen will, und richtet ihn gegen ihre Brust. Großes Kino, ein Finale voll Herz und Schmerz und Jubel im Saal.