Wiener Neustadt ist nicht gerade bekannt für eine blühende Theaterszene. Aficionados der Bühnenkunst können leicht in die nahegelegene Theaterstadt Wien ausweichen, daher blieb die zweitgrößte Stadt Niederösterreichs bühnenmäßig lange Zeit verwaist. Bis Anna Maria Krassnigg und ihr Team vor nunmehr drei Jahren die damals neu renovierten Kasematten übernahmen und aus den unterirdischen ehemaligen Befestigungsanlagen drei moderne Bühnenräume herausschälten. "Unser Start verlief unter denkbaren schwierigen Umständen: Die Eröffnung 2020 fiel mitten in die Pandemie", erinnert sich Krassnigg im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".

Dennoch ist es der Regisseurin, Intendantin und Regie-Professorin am Max Reinhardt Seminar innerhalb kürzester Zeit gelungen, mit dem mehrwöchigen Theaterfestival "Europa in Szene" das Publikumsinteresse kontinuierlich zu steigern: "Wir sprechen ein heterogenes Publikum an: Wir haben Gäste, die regelmäßig nach Wien ins Theater fahren, aber es kommen auch Menschen zu uns, die zuvor seit Jahrzehnten kein Theater mehr betreten haben, das freut mich natürlich besonders."

Ein Volkstheater im Miniaturformat? "Das ist mein erklärtes Ziel", so Krassnigg. "Theater ist seit jeher ein Dorfplatz der Gedanken. Ein Ort, an dem öffentlich auch komplexe Themen verhandelt werden können, die uns als Gesellschaft gerade umtreiben", analysiert die 52-Jährige. "Theater soll nicht populistisch sein, aber auch nicht so, dass man zuvor drei Seminare besuchen muss, um etwas zu verstehen."

Die aktuelle Festival-Ausgabe läuft noch bis 2. April; unter dem Spielplan-Motto "Gedankenfreiheit" sind zwei Inszenierungen angesetzt: "Don Karlos" von Friedrich Schiller, das Paradestück schlechthin, wenn es um Freiheitskampf geht, sowie Václav Havels kaum bekanntes Stück "Audienz".

"Verschollene Literatur aufzuspüren, ist eines meiner Steckenpferde", sagt Krassnigg. "Havel nimmt einen wichtigen Stellenwert in der tschechischen literarischen Tradition der ‚Schwejkiaden‘ ein, nur ist der Protagonist von ‚Audienz‘ eben ein intellektueller Dissident. Das Stück wurde nach der Niederschlagung des Prager Frühlings geschrieben, zugleich liest es sich streckenweise wie eine Gegenwartsbeschreibung - es ist urkomisch und zugleich bleibt einem das Lachen im Hals stecken." Inszeniert werden die beiden Stücke von Regie-Absolventen des Max-Reinhardt-Seminars, Florian Thiel und David Paška.

Mit "Reden" etablierte Krassnigg im Vorjahr ein gänzlich neues Bühnenformat: Ein Re-enactment historischer Reden etwa die "Bergpredigt" von Jesus oder die "Neujahrsrede 1990" von Václav Havel, anschließend werden die Reden coram publico analysiert, für Krassnigg jedes Mal ein "intellektuelles Abenteuer".

Überhaupt liegen der rhetorisch äußerst versierten Theatermacherin Gesprächsreihen besonders: Auch im "Salon Europa" werden hochkarätige Diskutanten in Matineen den Begriff "Gedankenfreiheit" durchleuchten. "Was ist bloß aus der Gedankenfreiheit geworden", fragt sich Krassnigg. "Bei Schiller ist es noch das höchste Gut und mittlerweile erleben wir eine Verschiebung hin zu seltsamen Kreuz-und-quer-Denkereien." Mehr darüber beim Festival "Europa in Szene".