Die Russen sind da! Der Erfolg mit Alexander Ostrowskis "Wald" hält an, dazu kommt die Lew-Tolstoi-Dramatisierung der "Anna Karenina". Warum soll es die Josefstadt, die ohnedies die Wiener Tschechow-Bühne Nummer eins ist, nicht mit Maxim Gorkis "Sommergästen" versuchen, dem tschechoweskesten Stück aller Tschechow-Imitationen, noch dazu geschrieben in Tschechows Todesjahr 1904?
Dass Regisseur Elmar Goerden daraus eine geradezu anti-tschechowesk bunte Komödie mit dennoch viel Tiefgang macht, ist ein Glücksfall, den das glänzende Ensemble mit Brillanz ausspielt. Selten so gelacht auf so hohen Niveau! Am Schluss schrie sich das Publikum mit Bravo-Rufen die Kehlen heiser. Zurecht.
Viel Zeit ist seit dem Entstehungsjahr vergangen, die Sommerfreuden der Bourgeoisie sind in etwa die gleichen geblieben, auch die Sorgen, Nöte und Plappereien haben sich nur geringfügig verändert.
Man redet, redet und redet
Man trifft einander im Sommerdomizil, alle sind untereinander irgendwie verbandelt, wie man auf Wienerisch sagt, Onkel, Tanten, miteinander Verheiratete und ineinander Verliebte füllen die Bühne. Ihnen geht es um - ja: worum, eigentlich? Die gutbetuchten Bürgerlichen lassen ihren Gedanken freien Lauf, einfach so, selbst ein Ertrunkener ist nur eine Episode, man streitet, macht Liebes- und Hassgeständnisse, versucht klug zu erscheinen, bemüht sich, witzig zu sein. Gorki, der diese bürgerliche Gesellschaft verachtet, verdammt sie gewissermaßen aus ihren eigenen Worten.
Bei Tschechow selbst, dem Großmeister der inhaltsschweren Inhaltslosigkeit, ist die Langeweile das Thema eines spannenden Stücks. Bei seinem Imitator Gorki ist das Stück selbst langweilig. Der Unterschied ist, dass Tschechow Auslöser benützt. Was Alfred Hitchcock einen "MacGuffin" nannte, ist bei Tschechow etwa der Verkauf eines Kirschgartens. Bei Gorkis "Sommergästen" fehlt solch ein Auslöser.
Die Josefstadt-Aufführung ist mit ihren drei Stunden und drei Minuten, wie der Spielplan vermerkt und das Amüsement damit auf die Spitze treibt, lang.
Sehr lang.
Nur langweilig ists ie nicht. - Goerden stopft die Aufführung mit Gags voll, beginnend beim Nieseln, mit dem die Sommerfrische symbolisch anfängt: Alle stehen im Regen, ein Lied, bitte, etwas Tristesse vor dem abstrakten Hintergrund und den Sommerfreude-Requisiten vom Paddelboot bis zu Sonnenschirm und den unbequemsten Liegestühlen aller Zeiten (Bühnenbild von Silvia Merlo und Ulf Stengl, Kostüme von Lydia Kirchleitner - alles fulminant).
Darauf folgen Discotänze, eine aberwitzige Performance mit vollem Körpereinsatz von Susa Meyer zu Beginn des zweiten Aktes, ein allgemeines Trockenschwimmen, die Wasserleiche geht wasserspuckend über die Bühne, Ohrfeigen fallen, Hosen ebenso mit allen eindeutigen Fortsetzungen, zu guter Letzt’ surft Alexandra Krismer (Warwara) über die Köpfe aller hinweg, Menschenskind, ist da etwas los in jeder Sekunde, das ist klug und knallbunt und unterhaltsam und klug und, ja: unsagbar zart und poetisch ist es auch in den flüchtigen, bitteren, herzzerreißenden Liebesszenen.
So virtuos hat schon lange keiner auf der Klaviatur der Emotionen gespielt wie Goerden. Er nimmt ernst, belächelt aus Distanz, ironisiert, trifft ins Mark. Der Zuschauer wird überwältigt von einer Regie, die so witzig, so klug und, vor allem, so überraschend ist, dass die drei Stunden (und drei Minuten, die bei der Premiere, nebenbei bemerkt, etwas länger dauerten) kaum ins Gewicht fallen.
Dass Goerden Gorkis Text mitunter zuleibe rückt, dass er die Gender- und LGBTQ+-Thematik hineinschreibt: Was tut‘s? Der Gorki-Text ist offen und beliebig genug, dass er es aushält, den braucht man wirklich nicht nach dem reinen Autorenwort zu spielen. Wenn man die Thematik einer Lebenssinnsuche samt ihrer Bizarrerien in die Gegenwart übersetzt, gehört auch das dazu.
Ein Ensemblestück sind die Sommergäste, und Goerden führt denn auch ein Josefstadt-Luxusaufgebot (Michael Dangl, Alexandra Krismer, Michaela Klamminger, Claudius von Stolzmann, Günter Franzmeier, Silvia Meisterle, Roman Schmelzer, Schalimow, Ulrich Reinthaller, Oliver Rosskopf, Martina Stilp, Katharina Klar, Joseph Lorenz, Jakob Elsenwenger, Julian Valerio Rehrl) mit Präzision bis in die Armbewegung hinein zum Erfolg. Welch ein Triumph der Unterhaltung!