Tatsächlich widerspiegeln manche Tanzstücke die emotionale Lage des Betrachters, und manchmal verstärken sie diese auch. "Tabula Rasa" von Ohad Naharin ist so ein Werk: Wenn im ersten Teil die Tänzerinnen und Tänzer des Wiener Staatsballetts an ihre Grenzen gehen müssen, in erdigen Bewegungen mit gebeugten Knien, fließend, dann doch immer wieder stoppend. Noch nie wurde ein Grand Plié in der ersten Position (die Beuge der Knie, bis das Gesäß fast die Fersen trifft) dermaßen eindringlich auf der Bühne gezeigt. Zumindest nicht auf jener der Wiener Staatsoper, wo "Tabula Rasa" im Rahmen des Ballettabends "Goldberg Variationen" am Donnerstag Premiere hatte.

Zur Musik von Arvo Pärts gleichnamiger intensiver Partitur ist Naharins Choreografie schwermütig, aber auch beruhigend, wenn etwa von der rechten Bühnenseite in einer Linie ein Tänzer dem nächsten folgt, wie ein Metronom von links nach rechts unisono schwankend die Bühne quert - dazu Pärts Geigenklänge (Violinen: Yamen Saadi und Raimund Lissy). Gaga nennt Naharin heute seine Tanztechnik, die zur Entstehungszeit des Stücks im Jahr 1986 noch gar nicht als solche definiert war.

"Tabula Rasa" lässt viele Interpretationsmöglichkeiten zu: Es geht um Beziehungen in Duos oder Trios, man sieht das Zueinanderfinden genauso wie das Sich-wieder-Verlieren. Ein großartiges Stück, auch meistens großartig getanzt. Dennoch erhielt das Orchester mit dem Dirigenten Christoph Koncz mehr Applaus als das Ballettensemble.

Andrés Garcia Torres (v. r.), Fiona McGee und Duccio Tariello in "Tabula Rasa". 
- © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor

Andrés Garcia Torres (v. r.), Fiona McGee und Duccio Tariello in "Tabula Rasa".

- © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor

Stilistischer Gegensatz

Der zweite Teil des Abends steht dann in einem starken stilistischen Gegensatz zu Naharins Stück: Johann Sebastian Bachs "Goldberg Variationen" in der Choreografie von Heinz Spoerli. Das Stück entstand 1993 für seine Düsseldorfer Kompagnie, das Wiener Staatsballett erhielt ein neu entworfenes Bühnen- und Kostümdesign, das minimalistisch mit Farben und Ganzkörpertrikots spielt. Es sind 30 Stücke, aufgeteilt in alle möglichen Formationen für dieses große Ensemble. Ballettchef Martin Schläpfer versuchte bisher in jeder seiner Premieren, die komplette Kompagnie einzusetzen, sodass möglichst viele Mitglieder des Staatsballetts auch Motivation in Auftritten finden können.

Juvenile Verspieltheit

Spoerli vermengt basale klassische Ballettschritte mit Athletik und lässt die Tänzer auf die unterschiedlichsten Arten interagieren. Manche Sequenzen erinnern an das tägliche Training im Ballettsaal und werden aber durch Einwärtsdrehungen der Beine oder ballettuntypische Armbewegungen wieder aufgelöst. Der Tanz bewegt sich von juveniler Verspieltheit zu eleganter Melancholie in Trios, Pas de deux’, Soli und Ensembleszenen, wobei die Musik immer klar nachvollziehbar integriert ist. Die Szenen tröpfeln durch 85 Minuten Partitur, die am Klavier von William Youn mit Verve interpretiert wurde. In Erinnerung bleibt wenig, bis auf einige Szenen mit den Ersten Solisten: Liudmila Konovalova mit ihren grazilen technisch einwandfreien Bewegungen, oder auch Olga Esina, deren Emotionalität und ihre perfekten Bein- und Armlinien einmal mehr die Ästhetik des Balletts verdeutlichen und Hyo-Jung Kang, deren Leichtigkeit kaum zu übertreffen ist. Doch der tosendste Applaus gehört auch an diesem Abend Davide Dato, dem Liebling des Wiener Publikums.