Am Morgen droht alles zu scheitern. Die Polizei hat ein Urteil zugestellt, in dem ein Richter die Blockade der brasilianischen Bundesstraße BR 155 untersagt. Für Zuwiderhandlung werde eine Strafe von umgerechnet fast 18.000 Euro verhängt. Sollte man sich nicht an das Urteil halten, seien die Beamten angewiesen, Gewalt anzuwenden. Es ist eine kleine Katastrophe.

Mehrere Jahre hatten der Schweizer Theatermacher Milo Rau und sein Niederländisches Theater Gent auf diesen Moment hingearbeitet. Sie wollten auf der BR 155 im südöstlichen Amazonasbecken ein Reenactment des Massakers aufführen und filmen, das die Militärpolizei hier am 17. April 1996 an Mitgliedern der brasilianischen Landlosenbewegung (MST) verübte.

Wut und Ratlosigkeit

Die indigene Aktivistin Kay Sara als Antigone. - © Heloisa Bortz
Die indigene Aktivistin Kay Sara als Antigone. - © Heloisa Bortz

19 Kleinbauern wurden während eines Protestmarschs in der Nähe des Städtchens Eldorado do Carajás erschossen, teilweise mit Kugeln in den Kopf exekutiert, einige Leichen wurden nie gefunden. Seitdem blockiert die MST zu jedem Jahrestag die BR 155, um der Opfer zu gedenken. Das Gerichtsurteil ist daher eine Provokation und es herrschen Wut und Ratlosigkeit.

Milo Rau sagt, dass er fürchte, dass die Sache nicht klappe. Das Massaker auf der Bundesstraße ist die Schlüsselszene seines neuen Stücks "Antigone im Amazonas". Es soll Mitte Mai 2023 in Gent Premiere feiern und wird dann ab 25. Mai bei den Wiener Festwochen gezeigt. Rau ist seit Jänner dieses Jahres designierter Intendant der Wiener Festwochen, er tritt ab der nächsten Ausgabe die Nachfolge von Christophe Slagmuylder an.

Der 46-jährige St. Gallener hat den Ruf, politisch, radikal und risikofreudig zu sein. Seine Stücke drehen sich oft um politische Gewalttaten, die am Originalschauplatz aufgeführt und gefilmt werden.

Er hat in Ruanda, Irak und Kongo gearbeitet. Von dort holt er die Gewalt zurück in die europäischen Theatersäle, denen er gerne die Ruhe und Abgeklärtheit austreiben würde. Seine Stücke seien "dokumentarische Theatersprengungen" hat eine Kritikerin im "Tages-Anzeiger" geschrieben. Eins von Raus wiederkehrenden Motiven ist die Ausbeutung der Welt für unseren Wohlstand, an den wir uns im Angesicht von Klimakrise und Krieg immer fester klammern.

Gesetz und Glaube

Am Tag vor der geplanten Straßenblockade saß er mit sonnenverbranntem Gesicht und von Ameisen zerbissenen Waden unter einem Mangobaum und sagte: "Aus diesem System kann nichts Gutes kommen. Man muss das ganze Leben verändern wollen, nicht nur Teile davon." Rau diagnostiziert der Welt, schwer krank zu sein.

Wie ginge die Anamnese besser als mit antiken Tragödien? 2019 inszenierte er "Orest in Mossul". Nun veranstaltet er "Antigone" im Amazonas, dieses Lehrstück über Politik, Moral, Gesetz und Glaube, bei dem am Ende alle tot sind, weil der Herrscher Kreon darauf beharrt, dass die Staatsräson über den Göttern stehe. Er lässt seine Nichte Antigone lebendig einmauern, weil diese ihren Bruder gegen sein Verdikt beerdigt hat.

Das Stück hat immer dann Konjunktur, wenn Krisen die Menschheit an ihrem Zustand zweifeln lassen. Wo also würde "Antigone" besser passen als ins Amazonasbecken, in dem die Widersprüche der Welt sich gerade bündeln? Brasilien versorgt den Globus mit Soja, Zucker, Fleisch und Eisenerz. Aber der Preis dafür ist enorm, weil die Produktion enorme Waldflächen verschlingt.

Wenn die Zerstörung des Amazonas so weitergehe, sagen Wissenschaftler voraus, dann kollabiere das Ökosystem Regenwald in Kürze. Man könnte also sagen, dass Kreon im Amazonas die Götter noch einmal herausfordert. Die Sachzwänge des Kapitalismus lassen ihm keine Wahl. Milo Rau interpretiert seine "Antigone" als Metapher für diesen Krieg der Agrarindustrie gegen eine vormoderne Ursprünglichkeit, die er im Amazonas gefunden zu haben glaubt.

Er sagt selbst, dass eine solcherart zugespitzte Inszenierung im Kontext des Burgtheaters leicht wie Agitprop wirken könne. Andererseits stimmt auch, dass die Konflikte in Brasilien noch von einer existenziellen Einfachheit sind, die wir in Europa so direkt nicht mehr kennen. Es geht um Land, Gerechtigkeit, Gewalt und die Zerstörung riesiger Wälder.

Bei der Konzeption seiner "Antigone" hat Rau eng mit der brasilianischen Landlosenorganisation MST zusammengearbeitet, die seinen Chor bildet. Sie wurde 1984 gegründet und kämpft für eine radikale Umverteilung des Bodens. Dieser ist fast nirgendwo so ungerecht vergeben wie in Brasilien. Lediglich ein Prozent der Bevölkerung verfügt über mehr als die Hälfte der Agrarflächen, während die Kleinbauern nur 20 Prozent nutzen. Es ist das Erbe der Kolonialzeit, das bis heute kaum angetastet wird, weil die Macht der Großgrundbesitzer ungebrochen ist. Diese fürchten und bekämpfen die MST, weil die Bewegung regelmäßig unproduktive Agrarflächen besetzt und ihre Enteignung fordert, wie es Brasiliens Verfassung vorsieht. Der Konflikt um solche Ländereien führt regelmäßig zu Gewalt und Toten.

Bereits 2020 waren Rau und seine Truppe nach Brasilien gereist, um für "Antigone im Amazonas" Aufnahmen zu machen. Dann kam die Corona-Pandemie und stoppte das Projekt. Nun ist die 15-köpfige Theatertruppe aus Belgiern und Brasilianern zurück und hat drei Wochen lang Aufnahmen in der Region gemacht, die bei den Festwochen in Wien auf Leinwänden gezeigt werden, während davor die Schauspieler agieren.

Die Antigone wird von der indigenen Schauspielerin Kay Sara gespielt, die in Brasilien durch TV- und Netflix-Produktionen bekannt ist. Sie wuchs in den Tiefen des nördlichen Amazonas-Dschungels auf, aber sie könne Antigones Schmerz über den Verlust ihres Bruders nachvollziehen, sagt sie. Ebenso Antigones Beharren darauf, dass die Riten befolgt werden müssten. Die 27-jährige Kay Sara stammt aus dem 3. Clan des Volks der Tariano, dem Donnerclan. "Ich bin eine Königstochter, wie Antigone", sagt sie. Aber von den Tariano sind nur noch 2500 Menschen übrig und lediglich 100 von ihnen sprechen Tariana. Ihre Kultur, die nur oral weitergegeben wird, stirbt. "Das Problem ist nicht, dass ihr nicht wisst, dass unsere Wälder brennen und unsere Völker sterben", sagt Kay Sara. "Das Problem ist, dass ihr euch daran gewöhnt habt."

Endlich tut sich etwas an diesem Morgen. Milo Rau schaut gespannt zu, wie eine regionale MST-Führerin mit einem Verkehrspolizisten verhandelt. Sie sagt, dass man den Jahrestag des Massakers begehe, dass sogar ein Bischof gekommen sei und "diese Theatertruppe aus Europa". Schließlich erreicht sie einen Kompromiss. Die Beamten werden die Straße für die Dauer des Reenactments sperren. Keine Minute länger.

Kurze Zeit später stehen mehrere hundert Menschen unter der stechenden Amazonassonne Spalier und schauen zu, wie 30 MST-Jugendliche und zwei Überlebende des Massakers Aufstellung nehmen. "Besetzen, widerstehen, produzieren", steht auf ihrem Banner. In vorderster Reihe reiht sich Laurindo da Costa Ferreira ein, der das Massaker 1996 überlebte, weil er sich auf einen Feldweg flüchtete.

Der 63-jährige Bauer, kleingewachsen und von der Feldarbeit tiefbraun gebrannt, trägt Schnauzer, ein staubiges Hemd und lange Hosen. Er sagt, dass er die Szenen des Verbrechens bis heute vor sich sehe und ihm das Herz blute. Dann marschieren sie los. Bis ihnen die Militärpolizei den Weg versperrt und zu schießen beginnt. Die Beamten zerren die Verletzten auf die Straße, legen sie nebeneinander und töten einen nach dem anderen mit Kopfschüssen. Es ist eine schwer erträgliche Szene. Die brasilianischen Laienschauspieler sind mit großer Ernsthaftigkeit und Leidenschaft bei der Sache, ihre Schreie und ihr Jammern dringen ins Mark. Sogar ein junger Verkehrspolizist am Rande sagt, dass ihm die Szene nahe gehe. "So etwas habe ich noch nie erlebt."

Zum Ende stehen die Toten auf und formieren einen Chor. Es ist eine Abweichung von Sophokles’ Version, in der am Ende niemand mehr lebt. "Die MST-Leute wollten das hier nicht", sagt Rau. "Sie sagen, dass sie nicht kämpfen, um zu sterben, sondern um zu leben."

"Geht arbeiten, Taugenichtse"

Als die Straße wieder frei ist, zeigt sich, dass nicht alle begeistert sind über die Kunstaktion aus Übersee. Ein Lkw-Fahrer schimpft aus seinem Fahrerhaus: "Mein Vater wurde auch umgebracht und ich blockiere keine Straßen, verdammte Scheiße. Geht arbeiten, ihr Taugenichtse!" "Das ist normal", sagt am Nachmittag ein erleichterter Milo Rau auf einer Pferdeweide hinter dem einfachen Hotel, in dem seine Theatergruppe untergebracht ist. "Es ist heute etwas mit einer Gruppe aus mehreren hundert Menschen passiert, was ohne das Theater nicht passiert wäre", resümiert er. "Die Wiederaufführung der Realität funktioniert. Sie kann Traumabewältigung sein."

Etwas später geht die Sonne in spektakulären Rosatönen über dem weiten Land unter und die Theaterleute stoßen in einem Restaurant auf das Ende der anstrengenden Dreharbeiten an. Hinter ihnen auf der Bundesstraße 155 fahren da schon längst wieder dröhnende Lkw-Kolonnen zu den Soja-Häfen und Schlachthöfen der Region.