Wenn ein Opernhaus ein "vergessenes Meisterwerk" des 20. Jahrhunderts ansetzt, ist Skepsis angebracht. So verständlich die Sehnsucht nach Abwechslung vom immergleichen Kanon ist: Es hat seinen Grund, warum etwa so manches Stück von Mieczysław Weinberg bis vor zehn Jahren noch als Opus mittelprächtiger Güte galt.
Eine Ausnahme bilden in diesem Zusammenhang Francis Poulencs "Dialogues des Carmélites" (1956). Welche Kraft diese Oper besitzt, hat hierzulande Robert Carsen nachgewiesen, als seine Inszenierung 2008 im Theater an der Wien Halt machte. Zugegeben: Das Libretto ist gewöhnungsbedürftig, schwimmt stark gegen den Strom der Konvention; statt eines Helden steht eine ganze Nonnengruppe im Zentrum, statt einer Liebesgeschichte eine Untergangstragödie: 16 Karmelitinnen landen, drangsaliert vom Terror der Französischen Revolution, am Ende unter der Guillotine.
Hinreißende Musik
Das große Alleinstellungsmerkmal dieser Oper ist die Schönheit ihrer Musik, besonders ihrer Vokallinien: Während in den Opern des 20. Jahrhunderts nicht selten sehr öd deklamiert wird, erweist sich Poulenc als Meister der geschmeidigen, ätherischen Melodien. Begleitend dazu lässt er ätherische Akkorde durch den Klangraum driften wie Kumuluswölkchen durch einen linden Juniabend. Diese Klangsprache bleibt der Tonalität verpflichtet, färbt Akkorde aber mit jazzigen Spannungstönen ein und steuert bisweilen bitonalen Gefilde an: in Summe ein zugängliches, doch unverwechselbares Meisterwerk.
Chapeau am Sonntag für Bertrand de Billy am Pult des Staatsopernorchesters: Er bringt in dieser letzten Premiere der Saison Poulencs pastellfarbige Passagen zu einer eleganten Wirkung, betont aber auch die pathetischen, prallen Puccini-Momente der Partitur - immerhin steuern die Nonnen auf ein gewaltsames Ende zu und ringen mit der Todesangst.
Magdalena Fuchsberger hat ihre Regie stark auf diese Furcht ausgerichtet. Rund um die zentrale Figur der Geschichte, die fragile Jungnonne Blanche, tummeln sich anfangs fünf finstere Gestalten: Diese Dämonen der Agonie werden später auch der Priorin Madame Croissy in deren Sterbestunde die Aufwartung machen. Einen Widerpart dazu bildet ein Geschöpf (Sofiia Stepura), das luftig durch die Szene tanzt. Halb Engel, halb Kämpferin, scheint es Blanches Idealvorstellung einer Gotteskriegerin zu verkörpern.
Wehrhaft wirkt auch der wuchtige Bau auf der Drehbühne: Monika Biegler hat aus hunderten Holzbrettern die Kontur einer Burg zimmern lassen, blickdichte Wände besitzt der Bau nicht. Dieses Holz-Ungetüm stellt nicht nur das Kloster dar, sondern auch eine Art Seelenraum. Oft halten sich die Frauen in verschiedenen Kammern gleichzeitig auf; dadurch entsteht mitunter so etwas wie eine szenische Polyphonie.
Stimmt zwar: Die Inszenierung hat kleine Schwächen. Dazu gehören die Videos von Aron Kitzig - gemäldeartige Bilder, die in einer Art Kirchenfenster oberhalb der Burg prangen, aber etwas aufgesetzt und dramaturgisch nicht immer nachvollziehbar wirken.
Dafür besticht die Personenführung durch ihre Detailfülle: Eine reiche Palette an Regungen und Bewegungen, von der sanften Geste bis zur saftigen Watsch’n, verleiht den Figuren Charaktertiefe und spiegelt ihr Beziehungsgeflecht wider. Bemerkenswert auch, wie die 16 Frauenleben hier enden: Die Nonnen, anfangs liberal und haubenfrei gekleidet, hüllen sich am Schafott in so viel Schutzmantelmadonnenstoff, dass sie gesichtslos in den Märtyrertod gehen. Der Wille zum Extrem hat ihre Individualität ausgelöscht.
Gesungen wird exzellent: Michaela Schuster verleiht der siechen Priorin eine ehrfurchtgebietende Stimme, Maria Motolygina der Nachfolgerin eine fast verzweifelte Wucht, Eve-Maud Hubeaux überwältigt mit ihrem vulkanösen Mezzo als Marie, und Maria Nazarova strahlt als Constance quirligen Liebreiz aus; grandios auch Bernard Richter als Chevalier. Den meisten Applaus heimst freilich Nicole Car (Blanche) ein, ein Nervenbündel par excellence mit ihrem drahtigen, nahezu elektrisch aufgeladenen Sopran. Zustimmung ohne Buhruf-Trübung letztendlich auch für die Regie.