Manchmal ist Nein sagen schon zu mühsam. Geschweige denn eine ganze Revolution. Unbequem, schmutzig, gefährlich. Ja, solche Rebellionsträgheit kann man sich leisten, wenn man im satt-reichen Mitteleuropa lebt. Diesen Luxus haben die Mitglieder MST nicht. Das ist die Bewegung der Landlosen in Brasilien, im Amazonasgebiet. "Hier ist jeden Tag Revolution", heißt es einmal in der Festwochen-Produktion "Antigone im Amazonas". Sie hatte am Donnerstag Premiere im Wiener Burgtheater, verantwortlich für sie zeichnet der designierte neue Chef der Festwochen, Milo Rau.
Das Stück erzählt sozusagen, während es spielt, seine Entstehung. Wie sich die Theatertruppe NTGent und die Leute von MST zusammentaten, um ein Massaker an friedlich Demonstrierenden mit dem Antigone-Stoff von Sophokles zu verweben. Wie die Corona-Pandemie eine Pause und Trennung über die Kontinente erzwang. Wie Antigone-Darstellerin Kay Sara, eine indigene Aktivistin, beschloss, nicht mehr "live" mitzumachen, weil sie nur mehr mit anderen Indigenen vor Ort arbeiten wolle.
Zwei Ebenen
Nicht erst da ergibt Milo Raus Kombination von Film und Bühnengeschehen Sinn, aber hier ganz konkret. Denn das Stück besteht aus zwei Teilen: Zum einen sind das Videos, die in Brasilien mit Überlebenden des Massakers gedreht wurden, in Pará, einem riesigen Bezirk, der früher fast nur aus Urwald bestand, der nun Weide- und Ackerflächen gewichen ist. Dass es hier eine Bewegung der Landlosen, also der von ihrem Land Vertriebenen, die für eine gerechte Verteilung kämpfen, gibt, liegt auf der Hand. Kay Sara ist nur in diesen Einspielern die Antigone. Zum anderen mit Schauspielern auf der Bühne, die manchmal mitspielen, was auf der Leinwand passiert, die manchmal mit den Personen auf der Leinwand interagieren, die erklären und reflektieren, was zu sehen ist. Etwa wenn eine Überlebende jenes Massakers vom 17. April 1996 beim Nachstellen mit Spielzeugfiguren unter Tränen erzählt, wie ihr Sohn sie angefleht hat, nicht hinzugehen. Aber sie musste, sagte sie ihm, denn sie muss für ein besseres Leben für ihn kämpfen. So wie alle anderen. Die Militärpolizei erschoss an diesem Tag 19 unbewaffnete Menschen, dutzende weitere wurden verletzt. Diese Spielzeugprobe ist nur Vorbereitung, denn es gibt auch ein Reenactment des Massakers am echten Ort, zum selben Datum. Zweimal ist dieses Nachstellen auf der Videowall zu sehen. Einmal ziemlich am Anfang, in Bewegtbild und auf der Bühne werden Menschen zu Boden gestoßen und per Kopfschuss getötet. Es ist beklemmend. Gegen Ende kommt die Szenerie zurück auf die Bildschirme. Es wird erzählt, dass die Polizei das Reenactment fast verhindert hätte, bis eine resche Aktivistin sie überzeugt hat. Die echten Polizisten sehen nun zu, wie ihre gespielten Kollegen diese Morde verüben.
Kein Leben ohne Kampf
Zwischen diesen Momenten liegen Szenen aus Antigone, immer wieder Kurzabrisse der Geschichte Brasiliens ("Invasion, Kolonisation, Sklaverei") und ein Besuch bei einer indigenen Gemeinde im Urwald, Menschen, die ein Leben ohne Kampf um ihren Lebensraum gar nicht kennen. Einmal sollte die Eisenbahn durch ihr Dorf gebaut werden, einmal ein Elektrizitätswerk. Widerstand ist hier notwendige Normalität. Der Schauspieler, der auf der Bühne Haimon spielt, ergeht sich unter dem Eindruck des Treffens in romantischen Zusammenhalte-Parolen - bis eine indigene Frau aus dem Video trocken zu ihm spricht: "Sie verstehen dich nicht einmal."
Wie also kann eine Unterstützung, wie kann Solidarität dann aussehen? Dieses Stück ist schon ein Anfang. Es gelingt Rau und seinem Team, die griechische Tragödie mit der realen Tragödie auf der Gefühlsebene zu verbinden: die Unausweichlichkeit des Widerstands, das "radikale Nein", der Respekt vor den Toten. Katharsis inklusive Kloß im Hals verspricht die letzte Szene: Dröhnend singt der Chor über den Leichen des Massakers, was er zuvor für Polyneikes gesungen hat: "Jedes Körnchen Erde auf dem Körper ist Licht."