"Wo ist die Wahrheit?", fragt der junge Mann zornig. Er spricht ganz langsam, er betont jede Silbe, damit ihn trotz seines starken Akzents jeder versteht. Denn was er hier auf der Bühne des Wiener Kabelwerks zu sagen hat, soll die ganze Welt hören: "Da ist die Wahrheit: Ich habe keine Arbeit, kein Geld, kein Heim - und ein gebrochenes Bein." Das mit dem Bein sieht man augenblicks - Usman Conteh, der zornige junge Mann, trägt einen Gips bis übers Knie und kann nur auf Krücken gestützt über die Bühne humpeln.
Auch sonst sind ihm die Sätze seiner Bühnenfigur durchaus vertraut: Der 21-Jährige mit den Rastalocken stammt aus Sierra Leone und lebt seit vier Jahren in Österreich; er wartet seit 2000 auf seinen Asylbescheid, was bedeutet, dass er keine Arbeitserlaubnis hat und in einem Heim des Integrationshauses lebt. "Ich bin nicht glücklich", antwortet Conteh auf die Frage, wie es ihm so im Allgemeinen gehe - allerdings mit Einschränkungen: "Fußballspielen und Theaterspielen, das ist super." Fußball spielt er bei "FC Sans Papier", bei einem Match hat er sich auch das Bein gebrochen; auf der Bühne ist er bereits bei der Wiener Festwochenproduktion "The Children of Heracles" gestanden.
Usman Conteh und zwölf weitere Schauspieler aus neun Nationen sind ab Freitag wieder auf der Bühne zu sehen - in "Nachtasyl" von Maxim Gorki, präsentiert im Kabelwerk, der zugigen Off-Bühne im 12. Wiener Gemeindebezirk. Das berühmte Stück über Menschen, die von der Gesellschaft ausgestoßen wurden und in einer heruntergekommenen Herberge provisorischen Unterschlupf finden, ist für dieses außergewöhnliche Ensemble geeignet wie kaum ein anderes. Alle Mitspieler des Stücks sind erst seit wenigen Jahren in Österreich und haben eine zum Teil abenteuerliche Flucht hinter sich; viele haben auch einige Wochen - manche gar Monate - in einem Flüchtlingslager verbracht.
Unaufgeregt authentisch
Ohne großes Bühnenbrimborium, ohne aufwändige Kostüme, nur mit ein wenig Licht und Musik, bringt die Truppe Authentisches auf die Bühne: Das liegt am unprätentiösen Spiel, vor allem aber an der Sprache - gespielt wird übrigens auf Deutsch und Russisch. Hat man sich erst ein wenig in die unterschiedlichen Sprachmelodien eingehört, genießt man den ganz besonderen Klang dieser Aufführung.
"Es geht nicht um Mitleid oder Therapie, sondern um Kunst", beteuert Manfred Michalke, 50, der Regisseur und Leiter des "Wiener Vorstadttheaters". Gegründet 1992, hat sich das Theater zur Aufgabe gemacht, gesellschaftliche Randgruppen ins Rampenlicht zu stellen. "Wir haben Stücke mit Behinderten gemacht, mit Süchtigen und eben mit Migranten." Im Vorjahr entstand bereits in Zusammenarbeit mit dem Integrationshaus die viel beachtete Beckett-Inszenierung "Warten auf Godot". Michalke sieht sich ganz in der Tradition der Wiener Vorstadtbühnen des 18. Jahrhunderts, wo abseits der höfisch kontrollierten Nationalbühnen ein multikulturelles Volkstheater fröhliche Urständ feierte.
Theater ist mehr als ein Spiel
"Wenn ich Theaterspiele ist es, als hätte ich zwei Leben, mein echtes und das meiner Bühnenfigur", sagt Perparim Ibrahimi, 19. Seit fünf Jahren ist er in Österreich, damals ist er mit seiner Familie vor dem Krieg im Kosovo nach Österreich geflohen. "Ich fühle mich hier sicher, habe keine Angst und keine Sorgen", so Ibrahimi, der gerade mitten in seinem zweiten Lehrjahr als Maurer ist. "Theater ist für mich mehr als ein Hobby", sagt Naim Alluri. Der 26-Jährige kommt ebenfalls aus dem Kosovo: "Ich bin allein geflohen, meine Familie ist über halb Europa zersplittert." Er habe gerade eine Ausbildung für Informationstechnologie begonnen, sagt er, und dass er sich jetzt in Wien heimisch fühle. "Ich möchte nicht wieder irgendwo von neuem anfangen."
Auf die Frage, wie man in einem Ensemble mit Menschen aus derart unterschiedlichen Kulturkreisen zurechtkommt, antwortet der 22-jährige Perser Farzad Mojgani: "Jeder ist anders, aber wir kommen gut durch." Mojgani hat vor drei Jahren seine Heimatstadt Teheran verlassen; sein Vater ist seit zehn Jahren in Haft, die Familie wird aufgrund ihres christlichen Glaubens verfolgt.
Warum man sich das Stück unbedingt ansehen sollte - darauf findet Mojgani ebenfalls eine schlüssige Begründung: "Wir sagen die Wahrheit über das Leben." n
"Nachtasyl/Na Dnje" von Maxim Gorki, die Premiere ist am 10. September im Kabelwerk, 1120 Wien, Oswaldgasse Nr. 33-35, Beginn: 20 Uhr. Weitere Termine: 11., 12. und 15. bis 18. September. Karten: 01/406 68 69 (Tonband).