
Was viele von uns schon geahnt oder erfahren haben mögen: Mann und Frau sind nicht kompatibel. Das Geschlechterthema hat schon viele Künstler inspiriert. Der deutsche Choreograph Stephan Toss, derzeit Ballettchef am Hessischen Staatstheater Wiesbaden, hat sich das Blaubart-Märchen vorgenommen, um seine Sicht der Dinge zu transportieren. Uraufgeführt wurde sein zweiteiliges Ballett "Blaubarts Geheimnis" im Februar 2011 in Wiesbaden, das Wiener Staatsballett tanzt das von der Kritik seinerzeit sehr positiv aufgenommene Werk nun nach. Premiere war Samstagabend in der Volksoper.
Toss stellt der eigentlichen Blaubartgeschichte ein Präludium voran, das verschiedene Formen der zwischenmenschlichen Kontaktaufnahme variiert. Zu minutiös ausgewählten Musikstücken des polnischen Avantgardekomponisten Henryk Gorecki lässt er die Paare in einem aus der Perspektive gerückten Raum (Bühnenbild: Gerhard Lorenz-Häusling) aufeinander treffen. Die meisten Begegnungen verlaufen flüchtig. Das Bewegungsvokabular spricht eine deutliche Sprache: Es wird ausgewichen, weggeduckt, drüber gestiegen, alles in sehr raschen Bildschnitten. Nähe entsteht so nicht. Wie viel Eigenleben darf jemand entwickeln in einer Beziehung, wie viel Anpassung oder gar Unterwerfung muss sein? Am Ende findet sich ein Paar. Happy End. Ein Film wäre jetzt zu Ende. Doch Toss geht in die Verlängerung. Vom Allgemeinen zum Besonderen sozusagen.
Nach der Pause sieht man wie Blaubart seine neue Liebe, Judith, mit nach Hause bringt. Es ist ein düsteres Haus, in der die omnipräsente Mutter wie eine schwarze Spinne auf dem Gefühlsleben ihres Sohnes hockt. Der wiederum, das wird auch der naiv liebenden Judith im sonnengelben Kleid rasch klar, laboriert an einer ungesunden Mutterbindung. Blaubart öffnet sich seiner Frau, führt sie in die geheimsten Winkel seiner Seele. Nur vor einer Tür schreckt er zurück. Dahinter verbergen sich seine Kindheitserlebnisse, die gefühlskalte Mutter, die ihrem Sohn nicht beigebracht hat zu lieben.
Trauma hinter der Tür
Vordergründig scheint der Bann gebrochen und die Liebenden finden zueinander. Doch wie lange lässt sich das Trauma hinter der Tür verbergen?
Stephan Toss findet für die Seelenqualen seiner Figuren beklemmende choreographische Bilder. Vom Stil her in der deutschen Tanztheatertradition des frühen 20. Jahrhunderts verwurzelt, arbeitet er nach der Methode "Tanz entsteht aus dem Inhalt". Seine Tänzer winden sich in rasanten Drehungen, die Ecken eines Charakters finden ihre Entsprechung in bizarren, kantigen, blitzschnellen Arm- und Beinbewegungen, Zuwendung passiert in komplexen Hebern. Zur drängenden, monotonen Musik von Philip Glass wird hier ein Psychothriller zelebriert, der einen von der ersten Minute an fesselt.
Tänzerisch umgesetzt wird das schlichtweg grandios und virtuos. Kirill Kourlaev als Blaubart ist von beeindruckender Präsenz und Präzision, Alice Firenze ist sowohl tänzerisch als auch darstellerisch eine großartige und intensive Judith und Dagmar Kronberger lässt einem als Blaubarts Mutter das Blut in den Adern gefrieren.
Im Orchestergraben spornt Wolfgang Ott die Musiker der Wiener Volksoper zu Höchstleistungen an. Vor allem die Philip-Glass-Kompositionen im zweiten Teil mit der hervorragenden Pianistin Sayuri Hirano sind beinahe schon ein Konzertereignis.
Jubel für einen herausragenden Ballettabend, der so gar nichts Vorweihnachtliches hat. Zum Glück.