Christoph Marthaler hat es sich selbst, seinem Ensemble und seinem Publikum mit seinem ästhetisch kaum überbietbaren Theater noch nie bequem gemacht. Aufrüttelnd und unbequem in vielerlei Hinsicht ist auch sein jüngstes Musik-Theater-Projekt "Letzte Tage", das, als Auftragswerk der Wiener Festwochen im historischen Sitzungssaal des Parlamentes uraufgeführt wurde.

Die politische Bühne wird zum authentischen Theaterraum für eine Collage aus dokumentierten oder treffend fingierten Texten, die politische Strategien und deren Konsequenzen vom Fin de siècle bis zur Gegenwart verhandeln. In der Stimmungsmache - Ausländerphobie, Antisemitismus, Nationalismus - am Vorabend des Ersten Weltkriegs sieht Marthaler erschreckende Parallelen zu Tendenzen unserer Zeit. Drastisch-plakatives Polit-Theater ist freilich nicht seine Sache. Er setzt, zusammen mit seinem in Höchstform agierenden Ensemble auf subtilere Mittel, kontrastiert Bilder von decouvrierender Komik mit nachdenklichem Ernst, beeindruckt mit meisterhaften Lichtstimmungen, bis schließlich im letzten Teil des Abends die Sprache verstummt und die Musik vollends an ihre Stelle tritt.

Fragmente aus dem KZ

Gewidmet ist die Vorstellung dem Gedenken an zehn jüdische Komponisten aus Tschechien, Polen und Wien, die Opfer des Nazi-Terrors wurden. Die Biographien von Ernest Bloch, Pavel Haas, Józef Koffler, Fritz Kreisler, Szymon Laks, Bernhard Lang, Pjotr Leschenko, Erwin Schulhoff, Alexandre Tansman und Viktor Ullmann sind im Programmheft dokumentiert.

Ihre Kompositionen, zum Teil im KZ entstanden und nur fragmentarisch überliefert, hat Uli Fussenegger bearbeitet und für das von ihm geleitete, alle musikalischen Anforderungen souverän bewältigende Live-Orchester neu instrumentiert. Dessen Besetzung - Klarinette, Bassetthorn Akkordeon, Klavier, Harmonium, Violine, Viola, Kontrabass - erinnert bewusst an die "Notsituationen" der Theresienstädter Orchester, die auf die verfügbaren Instrumentalisten und Instrumente angewiesen waren. Musikalisches Leitmotiv der Inszenierung ist eine in Theresienstadt 1943 entstandene Melodie für Violine von Viktor Ullmann, wahrscheinlich sein letztes Werk vor seiner Deportation nach Auschwitz.

Doch die Musik erklingt zu Beginn des Abends nur leise und sparsam, wenn Putzfrauen in grünen Kitteln den Schauplatz betreten und ihre Reinigungsarbeiten alles andere als übereifrig erledigen. Alsbald kommen Abgeordnete des Österreichischen Reichstages mit Texten aus den stenographischen Protokollen zu Wort, danach führt Karl Lueger in einer Rede (1894) antisemitische Argumente ins Treffen. Geraume Zeit später wird ein "an der Auserwähltheit Leidender" (Ueli Jäggi) ein wackelndes Rednergerüst erklimmen, die Einzigartigkeit des magyarischen Volkes herausstreichen und als Staatsmann konstatieren: "Wir sind Demokraten, wir brauchen keine Opposition."

Wiener Dame von Welt

Eine "Spitzenpolitikerin" (Katja Kolm) hetzt mit abstrusen, pseudowissenschaftlichen Argumenten gegen Ausländer, ehe sie voll Stolz auf ihre steirische Heimat ihre "Jodelkenntnisse" demonstriert. Silvia Fenz brilliert als ungeniert plappernde "Wiener Dame von Welt", die sehr wohl weiß, dass das Philharmoniker-Neujahrskonzert zur NS-Zeit begonnen hat, was zur Schlussfolgerung führt, dass "also doch nicht alles schlecht" gewesen sei.

Je beklemmender das Gegeneinanderhalten von Momentaufnahmen aus Vergangenheit und Gegenwart wird, umso stärker verlagert sich der Fokus auf die Musik, bis schließlich im Dämmerlicht der Chor aus Mendelssohn-Bartholdys Oratorium "Elias" erklingt, die Akteure nacheinander den Raum verlassen und der Gesang in den verwinkelten Gängen des Parlaments verhallt ...