
"Scheißkerl, bring mich um . . . Ich bin kein Sadist, erst heute Abend." Messersätze wie diese und alle Varianten des f-Worts donnern durch den Loft. Katja, Stern der niederländischen Soap Opera Industry, empfängt hier den Journalisten Pierre zum Interview. Sie ist 23, erfolgsverwöhnt, zynisch, koksgestützt überspannt.
Er 46, erfolgsgewöhnt, zynisch, schnapsgestützt überspannt. Aber angeschlagen durch den Tod eines Kindes daheim, während er vom Balkan kriegsberichtete. Und narzisstisch gekränkt, denn heute Abend tritt die Regierung zurück - und er, ein Politikspezialist, wird von der Redaktion zu dieser Zicke geschickt! Weil Pierre eine Stunde vor der Tür warten muss, bis sie kommt, schäumt sein Frust hoch zu ordinärster Streitlust.
Tief- und Flachsinn
Eine Zimmerschlacht vom Unfeinsten beginnt. Jeder sucht und findet des anderen wunde Stellen und stierlt darin. Öffentlichkeit, Veröffentlichung ist hier bloßgestellt als Hebel zur wechselseitigen Erpressung. Auch ein nationaler Schwarzpunkt wird angespielt: Srebrenica, wo niederländische Beschützer bei den Massakern weggeschaut haben. Rollentausch mehrmals. Katja quetscht Pierre aus, Pierre stellt seinen Körper aus. Das Ende überrascht - und doch wieder nicht. Denn wo, wenn nicht im Theater, will bewiesen sein, dass die Kunst der Verstellung über die Wahrheitssucher und Wichtigmacher im Konkurrenzgeschäft der Medien obsiegt.
Der Niederländer Theo van Gogh (1957-2004) war als Schauspieler, Filmemacher und Aktualitätenschreiber auf Kunst- wie Mediengleisen unterwegs. Ein begnadeter und skrupelloser Provokateur, der auf jüdischen, christlichen, islamischen Symbolen herumtrampelte. Ein radikaler Moslem hat ihn erschossen. Ein Märtyrer-Kult baute sich weltweit auf. 2007 wurde in den USA ein Remake seines Films "Interview" (2003) gedreht.
Auch die Bühnenfassung des jungen Wiener Stückeschreibers Stephan Lack in der Regie von Christina Tscharyiski ist nicht die erste. Sie schärft die Sprengkraft des Originals, indem sie den Fluss der Reden durch viele Blackouts anhalten lässt. Nachdenkpausen zu dumpfem Harmonikagebrumm, in denen der Zuschauer nachdenken könnte, über welchen Tief- und Flachsinn er zunächst hinweggehört hat. Doch sie zerdehnen den Ablauf auf die 90 Minuten des Originals - auf einige zu viel.
Alexander Pschill lauert vor Katjas Tür wie eine Kröte auf sein Opfer - im ersten der flüchtigen Grau-in-grau-Videos von Jan Frankl, die auf die nahe an die Rampe vorgeschobene Bühnenwand (Eleni Boutsika-Palles) geworfen werden. Der schmale Spielraum davor beinahe so zweidimensional flach wie in eine Filmleinwand gepresst. Im Großbild wird Gegenwart herbeizitiert: Zeitungsseiten, das Parlament im Haag, Katja in Aktion.
Bärenstarke Charakterkunst
Alma Hasuns Tränenhammer aus der Schnulzenserie: verdrehte Augen, gequältes Gesicht, plötzlich Starre und das Geständnis: "Ich bin schwanger." Sie zeigt live, was man in Schauspielschulen lernt: weinen, zugleich kreischen und dabei zu Boden fallen. Theater im Theater, Kostproben von Showdance zur Lockerung. Auch das Schleißige, Halbseidene, bildungsbürgerliche Gemüter Abstoßende der flinken Massenkitschproduktion und -promotion faszinierte Van Gogh. Alma Hasun passt als Typ und gondelt selbstsicher auf den emotionalen Wechselströmen des Textbuchs.
Alexander Pschill nimmt bravourös die Last als Unsympathler auf, ehe er sich Katjas Herz zu nähern scheint. Dieser Pierre lügt sofort, wenn er den Mund aufmacht. Ein Kotzbrocken, der heimlich in Damenhandtaschen wühlt und fremde Tagebücher liest! Pschill gibt ihn mit der Standkraft einer Pappfigur, die für American Tobacco wirbt. Sie knickt ein, wenn die Rede auf das tote Töchterchen kommt.
Erzählt Pschill vom Krieg, spielt er zum Ekel auch den Stolz des Dabeigewesenseins. Im Trubel der Verstellungs- und Verletzungsshow verliert er nie die Kontrolle. Bärenstarke Charakterkunst.
Wenn sich Alexander Pschill für den reichen Applaus bedankt, überrascht ein lockerer, leichtfüßiger Herr mit Bubengesicht.