Chéreau arbeitete konsequent weiter an seiner "Ring"-Regie, manifestierte damit das Schlagwort von der "Werkstatt Bayreuth" und einer Regie als Work in progress, womit er die Idee von Bayreuth als makellose Wagner-Modellbühne umkrempelte. Ab Anno Chéreau war Versuch, Irrtum und Weiterdenken eine höchst fruchtbare Bayreuther Inszenierungsmethode. Wie epochal Chéreaus Deutung war, mag man nicht zuletzt daran ermessen, dass in der Folge kein Regisseur um sie herumkam: Bis in die Gegenwart halten sich Ideen, die Chéreau als Erster szenisch formuliert hatte, als gebräuchliches Vokabular der "Ring"-Regie. Zu guter Letzt hatte es auch das seinerzeitige Bayreuther Publikum begriffen und bereitete 1980 bei der Schlussvorstellung der tatsächlich zum "Jahrhundert-Ring" avancierten Produktion eine neunzigmütige Ovation mit 101 Vorhängen.

Überhaupt ging es Chéreau in allen Theater- und Musiktheaterarbeiten stets darum zu zeigen, wie ein bestimmtes Gesellschaftsmodell den Menschen zu seinen Handlungen motiviert. In der Pariser Uraufführung von Alban Bergs "Lulu" in der vom österreichischen Komponisten Friedrich Cerha hergestellten dreiaktigen Fassung waren diese Beziehung zwischen dem Menschen und der ihn unmittelbar umgebenden Gesellschaft ebenso spürbar wie in Wolfgang Amadeus Mozarts "Don Giovanni" bei den Salzburger Festspielen oder in Alban Bergs "Wozzeck" an der Deutschen Staatsoper Berlin.

Das Alter Ego Koltès

Auch Leoš Janáceks "Aus einem Totenhaus" im Theater an der Wien wurde so zum erschütternden Plädoyer für Menschlichkeit in einer unmenschlichen Umgebung (und zur Modellinszenierung dieses Werks), während "Tristan und Isolde" an der Mailänder Scala reine Poesie war: Chéreau erzählte die Geschichte emotional aufgeladen in den Bildern seines ständigen Bühnenbildners Richard Peduzzi, die hinter abweisenden Ziegelwänden strahlendes südliches Licht und damit unerreichbare Freiheit und unerreichbare Schönheit erahnen lassen.

Vielleicht konnte Chéreau für das Musiktheater solche schlackenlosen Wege einer Verbindung von Realismus und Poesie beschreiten, weil er vom leichter handhabbaren Schauspiel geprägt war – und auch hier gelang ihm Exemplarisches, etwa die den heutigen Zuschauer betroffen machende "Phèdre" von Jean Racine. Chéreaus Großtat für das Theater war indessen die Entdeckung und Förderung des französischen Dramatikers Bernard-Marie Koltès, mit dessen "Kampf des Negers und der Hunde" Chéreau 1983 sein Théâtre des Amandiers in Paris-Nanterre eröffnete. Bei Koltès fand Chéreau genau jene mythisch überhöhte Auseinandersetzung mit der Gegenwart, die ihm selbst seit der Bayreuther "Ring"-Regie immer mehr zur Triebkraft geworden war. Chéreau inszenierte alle Stücke Koltès’ und verlor einen Weggefährten im Geiste, als dieser 1989 an den Folgen von Aids starb. Nun trauert die Bühne auch um ihren anderen großen Magier.