Realismus an der Grenze des Erträglichen: "Van den vos" bei den Festwochen. - © Kurt Van der Elst
Realismus an der Grenze des Erträglichen: "Van den vos" bei den Festwochen. - © Kurt Van der Elst

"Van den vos" beginnt als philosophische Versuchsanordnung: Zwei Personen in einem Auto, deren Gesichter zugleich auf eine gigantische Leinwand projiziert werden, diskutieren die Frage menschlicher Verantwortung. Die Erhaltung der Moral, meint der eine, beruhe auf Respekt und Gehorsam. Die Tage der Moral, so die andere, seien ebenso gezählt wie jene der Alchimie oder der Astrologie - im Übrigen sei jede höhere Kultur nichts als eine Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit. Der Rahmen ist abgesteckt: In den folgenden zwei Stunden entfaltet sich im Odeon ein Thriller um Schuld und Moral, Trieb und Vernunft, Gesetz und Grausamkeit.

Die junge belgische Kompanie FC Bergman, erstmals zu den Wiener Festwochen geholt, schreckt vor großen Themen nicht zurück. In ihrer Adaption des mittelalterlichen Epos "Reineke Fuchs" (Textfassung: Josse De Pauw) konfrontiert sie das Publikum mit dem biederen Bürger Wolf, der den Verbrecher Fuchs zur Strecke bringen will, während er sich verzweifelt an die brüchigen Grundlagen seines eigenen Moralgefüges klammert. Manisch fischt er mit dem Kescher herabfallendes Laub aus dem Pool, bis dieser zuletzt unter einem Blätterregen verschwindet.

Nah an der Überschwemmung


Jenseits der transparenten Leinwand, auf der gefilmte Freiluftsequenzen und die Gesten der Darsteller in Großaufnahme zu sehen sind, liegt die Wildnis: ein echter Wald, den FC Bergman ins Odeon verpflanzt hat. Das spartenübergreifende Kollektiv, dessen Name zwischen Fußballklub und Autorenfilm changiert, verbindet die körperliche Unmittelbarkeit des Theaters mit einem filmischen Realismus, den man so von der Bühne nicht (mehr) gewohnt ist und der den tröstlichen Gedanken erschwert, es sei ja "alles nicht echt" - bis zum Wasser, das gegen Ende über die Ränder des Pools tritt und den Füßen der ersten Zuschauerreihe gefährlich nahe kommt, und den an der Grenze des Erträglichen angesiedelten Gewaltszenen.

Echt sind auch die Musiker des Solistenensembles Kaleidoskop: Wenn es auf der arenaartigen Bühne dunkel wird, begleiten sie mit eindringlichen Klängen der Popmusikerin Liesa Van der Aa die Jagd - oder vielmehr das Gejagtwerden - auf und hinter der Leinwand. Paraphrasen klassischer Stilelemente verstärken dunkle Stimmungen, insistierendes Pochen und elektronisch erweiterte Geräuschhaftigkeit illustrieren die unkontrolliert wuchernde Natur.

Das Stück könnte auch "Die Dialektik der Aufklärung" heißen: Als Beherrscher der Natur wird der Mensch Sklave seiner verleugneten Triebhaftigkeit. Wolf ist nicht nur Hüter des Anstands, sondern auch Führerfigur, für die andere auf dem "Feld der Ehre" fallen. Am Schluss wäscht er sich angeekelt die blutbedeckten Hände, bevor er sich an einem jungen Mädchen vergeht. "Ich habe keine Angst vor dir", sagt er zu ihr.

Nicht nur schwer erträglich, sondern auch fragwürdig ist die Charakterisierung weiblicher Figuren als willfährige Objekte männlicher (Mord-)Gelüste. "Van den vos" überschreitet Grenzen, auch jene des guten Geschmacks - es entfaltet aber auch einen Sog, der in seiner alptraumhaften Dichte auf ständige Überforderung zielt und dem Publikum einen Sicherheitsabstand ebenso unmöglich macht wie den Figuren auf der Bühne. Niemand bleibt hier sauber. Auch das Publikum scheint am Schluss mitgenommen, einige Zuseher verlassen fluchtartig den Raum. Der Wolf und der Fuchs - sie sind uns beunruhigend nah.