
Ein Solitär ist dieses Stück, das lange als unaufführbar galt und bis heute immense Anforderungen stellt. Wohin man auch blickt, lauern Risiken. Wie behält ein Dirigent die Fäden bei dieser mehrdimensionalen Partitur in der Hand? Wie schlagen sich die Sänger? Bei der Uraufführung 1965 kam manches noch vom Band, Bernd Alois Zimmermann selbst meinte, manches könne man schlicht nicht singen. Und was macht ein Regisseur aus der heute leicht ranzig wirkenden Vorlage? Jakob Michael Reinhold Lenz schrieb "Die Soldaten" 1776 und lieferte eine schonungslose Gesellschaftsanalyse. Marie, brave Bürgerstochter, ist glücklich verlobt, wird von einem skrupellosen Baron bedrängt, von einer wütenden Macho-Soldateska schikaniert und gequält, erlebt Gewalt bis hin zur Vergewaltigung. Ihr tragisches Ende ist absehbar, doch Zimmermann geht noch einen Schritt weiter und schafft einen Tutti-Totentanz, einen letzten Aufschrei als Signum der verzweifelten Menschheit insgesamt.
Die Partitur weist zahllose, revolutionäre Neuerungen auf, es gibt Simultanszenen, unterschiedlichste musikalische Temperamente - Zwölftonreihen, Barockzitate, Popfetzen, Jazzrhythmen - sowie elektronische Zuspielungen. In München wuppen die Vokalsolisten sogar das, was Zimmermann für unsingbar hielt, und Kirill Petrenko lässt das Bayerische Staatsorchester donnern, aufjaulen, leise schluchzen, stöhnen, boshaft triumphieren. Mit höchster Emphase widmet er sich auch Zimmermanns kompliziertem Zeitkonzept: Der Komponist ging von einer kugelförmigen Einheit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus. Das bedeutet konkret ein Rückblenden, Ineinandergreifen und Vorausblicken, sowohl dramaturgisch wie innerhalb der Lineatur. Besser als unter Petrenko kann das alles nicht klingen. Und besser singen kann man es auch nicht. Barbara Hannigan wird zum düsteren Gravitationszentrum der Aufführung, ihre Marie rast und turnt und tanzt über die Bühne, schier mühelos gelingen schwierigste Tongirlanden.
Michael Nagy stattet Maries Verlobten Stolzius mit traumhaft sicher geführtem Bariton aus, Daniel Brenna als Baron Desportes singt und spielt überzeugend den brutalen Psychopathen. Bei den kleineren, aber kaum leichter zu bewältigenden Partien überragt Hanna Schwarz als Maries Großmutter das homogene Ensemble.
Andreas Kriegenburg und sein Bühnenbildner Harald B. Thor lassen das Geschehen in einem bunten Epochenmix spielen, auch bei Andrea Schraads Kostümen treffen Gegenwart, Goethezeit und vielleicht die 1960er Jahre aufeinander. Ein gigantisches Kreuz aus verschiebbaren, wabenartigen Kammern erlaubt noch viel weiter gehende Parallelszenen, als es Zimmermann intendierte. Kriegenburg schärft die Vorlage und zeigt Gewalt und Tristesse mit ungeheurer Wucht und Wut. In erst langsamer, plötzlich rasender Geschwindigkeit rauschen Folterbilder vorbei, dann feiern die Soldaten ausgelassen, später peinigt man Huren. Marie ist in dieser Hölle gefangen, wenn sie eine der schmutzigen Türen öffnet, wird sie mit Wucht zurückgeschleudert.
Man könnte schier endlos weiter berichten, etwa von den phänomenalen Lichtstimmungen Stefan Bolligers oder dem ausgefeilten Raumklang. Diese Aufführung ist schlicht epochal, wobei Kriegenburg sich eine besondere Pointe bis zum Schluss aufbewahrt. Nach dem ausgedehnten Schreikonzert verlischt das Licht, doch man hört Marie im Dunkeln heftig atmen. Sie hat überlebt, hat vielleicht noch eine Zukunft. Damit trifft Kriegenburg den humanistischen, auch religiösen Kern von Zimmermanns Schaffen. Unter allen Trümmern glimmt noch ein Feuer - oder zumindest ein Funke.
Oper
Die Soldaten
Von Bernd Alois Zimmermann
Bayerische Staatsoper