
"Kennt man einen Menschen nicht, ist er des Menschen Tiger." Das ist einer der Leitsprüche in Ho Tzu Nyens "Ten Thousand Tigers", einem intensiven Stück Bildertheater, das am Sonntag bei den Festwochen Europa-Premiere feierte. Der Tiger ist ein mächtiges Symbol in der malaiischen Tradition. So mächtig, dass man mit ihm die ganze Geschichte der Halbinsel erzählen kann. Und die beginnt vor zwei Millionen Jahren. Da war der Tiger schon da. Auf den Menschen musste er noch etliche Jahrtausende warten. Mensch und Tiger haben so eine enge Beziehung, dass die Speziesgrenze auch verschwimmen kann. Etwa beim Wer-Tiger - ähnlich wie beim Werwolf verwandelt sich der Mensch in der Nacht im Schutz des Waldes in einen Tiger. "Ten Thousand Tigers" erzählt, wie diese sagenhafte Metamorphose abläuft. Unter anderem muss man drei Salti schlagen.
Militärische Tiger
Dem Anthropologen Walter William Skeat gelingt 1906 ein Foto von einem solchen Wer-Tiger. Das Bild zeigt zwei auf dem Boden hockende Menschen. Auf der Bühne, einer Art Riesensetzkasten, werden diese Hockenden nach einem blendenden Magnesiumblitz zu den Erzählern der Geschichte. Die sich nicht nur um Menschen dreht, die im mythischen Sinn zu Tigern werden. Sondern auch um solche, die im übertragenen Sinn zu Tigern werden. Wie die Mitglieder der Kommunistischen Partei, die im Dschungel einen Guerillakrieg gegen die japanische Besatzung im Zweiten Weltkrieg führten. Wie die Tiger verteidigten sie ihr Revier. Als "Tiger von Malaya" wurde freilich ein anderer bezeichnet: der Führer des japanischen Heeres, das den Briten eben durch die Beherrschung des Waldes hier eine der schlimmsten Niederlagen ihrer Geschichte zufügte. Ein Tiger der wieder anderen Art war Lai Teck, Generalsekretär der Malaiischen Kommunistischen Partei. Ein Mann, der unter 50 Namen firmierte, ein Dreifachagent, eben ein Mensch, den man nicht kennt: "des Menschen Tiger".
So holprig das hier beschrieben wohl klingt, so geschmeidig verschränkt Ho Tzu Nyen diese und mehr Episoden auf der Bühne. Im Riesensetzkasten stehen, sitzen, hocken vier Schauspieler, im Zentrum steht eine typische Tigerangriff-Darstellung, außerdem gibt es Kammern mit Bildschirmen, ein Grammophon, das die Rauferei zwischen Python und Tiger romantisch untermalt, Aquarien, die rauschend die Macht des Wassers illustrieren. Die Tonspur kratzt mit Disharmonien und Lautstärke hart an Nerven und Trommelfell - passt aber urwaldhaft zum unkonventionellen Bühnengeschehen. Und nicht nur die Schlussfolgerung "Mit dem Tod des Tigers kommt der Tod der Geheimnisse" bringt angesichts der massiven Gefährdung der Tierart zum Nachdenken.
Theater
Ten Thousand Tigers
Wiener Festwochen
Halle G/MQ, bis 4. Juni