
Wien. "No wos ist!? Aufstehn!", ruft Erzherzogin Sophie (Katharina Dorian) echauffiert ins Publikum. Kurze Stille, dann erheben sich langsam die Ersten, andere folgen - bis schließlich alle stehen. Denn auf der Bühne wird gerade Sissi mit Franz Joseph vor dem Bischof verheiratet - und da kann es ja nicht sein, dass das Publikum sich schnöde in die Holzsessel flötzt, ned wohr? Also stehen - auch recht. Nach der Zeremonie darf sich der p.t. Gast nach dem liebevollen Kommando "Platz!!" eh wieder setzen.
Wir befinden uns in der Premiere der heurigen Neuproduktion im Stegreiftheater Tschauner in Wien-Ottakring. Und da hat man sich einen echten Knaller ausgedacht. "Sissi - Beuteljahre einer Kaiserin", ein "Trash-Musical" von Walter Bockmayer, wird im Rahmen der jüngeren Reihe "Tschauner reloaded" auf die Bretter des Pawlatschentheaters geknallt. Und die Bretter biegen sich gewaltig: Denn es wird gesungen, gegrölt ("Und jetzt alle!") und getanzt - schließlich spielt in dem Stück die Figur Marika Rökk (Lilly Kugler) eine tragende Rolle.
Mit der Reihe "Tschauner reloaded" öffnet sich das traditionelle Stegreiftheater einer breiteren Publikumsschicht. Denn die Sissi des bejubelten Alexander Donesch ist nicht nur Kaiserin, sondern auch Königin - genauer Drag Queen, eine queere, schrille Ikone, die allem Pathos der Figur eine kräftige Abreibung verpasst. Kein Wunder, dass sich auch im Premierenpublikum die eine oder andere Königin fand, die den Weg aus dem innerstädtischen Bobobiotop in die mitunter raue Ottakringer Vorstadt gefunden hat.
Denn dort logiert schon seit Jahrzehnten der Tschauner, der auf verschiedenen Standorten auf eine mehr als hundertjährige Tradition zurückblicken kann. Hier ist Theater noch reine Unterhaltung, hier darf mitgemacht und mitunter auch reingerufen werden - vor allem bei den Stegreifklassikern (manche sogar mit - Huch! - Jugendverbot!) , die gemischt mit Kabarett und den Produktionen der Reloaded-Schiene den ganzen Sommer über auf dem Programm stehen. Hier, wo es Tradition ist, den Abend auf der überdachten Freiluftbühne mit einer Knacker mit Senf ("siass oda schoaf?") und einem G’spritzten zu beginnen, darf noch lauthals gelacht werden, wenn die Zoten tief fliegen. Die Fans der Materie kommen da auf ihre Rechnung: Keine paar Minuten vergehen, ohne dass die johlende Menge nicht mit ein paar Anzüglichkeiten befriedigt wird.
Diese Unmittelbarkeit, dieses Gefühl, nicht nur Zuschauer, sondern gleichzeitig auch irgendwie aktiver Teil des Ganzen zu sein, kommt ironischerweise auf dieser Freiluftbühne mit ihren in Wien einzigartigen Produktionen besonders zur Geltung. Hier werden die Grenzen des Theatervertrages ausgeweitet, hier darf man sich nicht wundern, wenn auch ein bisschen Eigenleistung gefragt ist und man sich mitunter dafür rechtfertigen muss, dass man jetzt leider gerade kein Spinett mit dabei hat.
Theater unter Denkmalschutz
Beim Tschauner war Stegreif schon gang und gäbe, bevor es als Impro in aller Munde war. Wobei die "Sissi"-Produktion kein Stegreifstück ist, sondern eine klassische Aufführung, die die Tschauner-Traditionen aber auf ihre Weise hochhält (oder sie zumindest persifliert) und somit an das Kulturleben der Stadt einbindet.
Als Gustav Tschauner 1909 seine Stegreifbühne gründete, war das Genre noch weiter verbreitet. Es ist der unermüdlichen Arbeit der Familie zu verdanken, diese Tradition so lange aufrechterhalten zu haben, bis man sie als letztes Exponat einer aussterbenden Theaterkultur unter städtischen Denkmalschutz stellte. Die Bühne ist heute ein modernes Theater, das alle Stückerln spielt und dennoch Flair von gestern verströmt.
Mit der schwungvollen und sehr liebe- und humorvollen Sissi-Produktion ist man nun genau dort angekommen, wo das Theater seine Stärken hat. Es lebt von den exzellenten Darstellern, bei denen es nicht so wichtig ist, welches Stück oder welche Rolle sie jetzt gerade spielen - man will sie trotzdem immer wieder sehen.