Mozarts Ouvertüre zu "Idomeneo" nutzt Regisseur Kasper Holten in seiner ersten Staatsopern-Arbeit für eine Art Vorspann: Den Bühnenboden überzieht eine Landkarte. Was dann passiert, erinnert an die Titelsequenz der TV-Serie "Game of Thrones": Kretas König Idomeneo ordnet auf dem Atlas große Spielfiguren um: Zwei Paare bleiben stehen, alle anderen Figuren fallen. Auch die Kostüme von Anja Vang Kragh sind nach der Fantasy-Saga gestrickt. Das mag eine oberflächliche Parallele sein, aber es gibt auch handfeste inhaltliche. Der dänische Regisseur macht aus "Idomeneo" eine Geschichte des Kampfes zwischen Großreichen und Königsfamilien, befeuert von menschlichem Treibstoff: Krieg, Lust, Liebe und Macht.
Doch der Reihe nach. Idomeneo überlebt einen Sturm auf hoher See und hat für seine Rettung den Göttern geschworen, den ersten Menschen, den er an Land sieht, zu opfern. Es ist dies sein Sohn Idamante. Dieser Konflikt wird im Happy End der opera seria aufgelöst: Ein göttlicher Orakelspruch rettet das Opfer vor der tödlichen Klinge. Somit wird Idamante neuer König - mit Trojas Königstochter Ilia an seiner Seite. Und nicht mit Elettra, die ebenfalls in Idamante verliebt ist. Das ist der zweite Erzählstrang, eine klassische Dreiecksgeschichte.
Idomeneo begehrt Ilia
Das alles sei hier in Erinnerung gerufen, denn Holten macht mit präzisen dramaturgischen Eingriffen aus dem erlösenden Götterspruch im Schlussakt der Oper eine Revolutionsgeschichte und aus dem Liebesdreieck ein Viereck. Die vierte Figur, die Idomeneo zur Ouvertüre auf seiner Landkarte positioniert hat, ist er selbst - auch der König begehrt in dieser Inszenierung die schöne Kriegsgefangene Ilia und wird so zum Rivalen seines Sohnes.
Dass Holtens Kalkül aufgeht, liegt an der dramaturgisch geschickten Umreihung einzelner Szenen und an den darstellerischen Fähigkeiten der Sängerinnen und Sänger. Allen voran Michael Schade: Sein Idomeneo ist ein seelisch wie körperlich gezeichneter Mann, traumatisiert von den Bildern des Trojanischen Krieges. Blutgetränkte Gestalten verfolgen ihn und Elettra - sie muss ja mit einer besonders grausamen Familiengeschichte leben. Ilia bleibt nicht nur die passive Kriegsgefangene: Chen Reiss stattet die Figur zunächst mit lieblichen, weichen Tönen aus, verändert jedoch ihr Timbre parallel zur Rolle, lässt ihre Stimme zusehends härter klingen. Margarita Gritskova wird als Idamante den großen Anforderungen mehr als gerecht, ihre Stimme ist im Kern drahtig, dazu garniert sie ihre Interpretation mit weich abgefederten Piano-Phrasen. Schade gelingt das in der Titelrolle nur bedingt, etwas hölzern klappern die waghalsigen Koloraturen der Arie "Fuor del mar", so als wäre er - bei aller gesangstechnischer Versiertheit - an die Grenzen des stimmlich Möglichen gelangt. Maria Bengtsson darf bei ihrem Staatsopern- und Rollendebüt alle drei großen Elettra-Arien singen - sie tut dies mit dramatischer Wucht, ohne je den Rahmen des Schönklangs zu sprengen. Pavel Kolgatin als Arbace und Carlos Osuna als Oberpriester gaben stimmsichere Rollendebüts, der Chor der Wiener Staatsoper beeindruckte durch mächtige Sonorität.
Showdown im dritten Akt
Dirigent Christoph Eschenbach war um breit strömende Dynamik bemüht. Manche Binnenstruktur ging da unter - obwohl sich das Orchester in Bestform zeigte. Eschenbach mied klangliche Extreme. Berückende Momente gab es nicht dank verfeinerter Details, sondern vermittels des butterweichen Streicherklanges.
Holtens Regiearbeit im wuchtigen Bühnenbild von Mia Stensgaard hat das Zeug zum Klassiker. Den von den Liebesarien befreiten dritten Akt (die sind in den zweiten verschoben) hat Holten zum dramatischen Showdown umgebaut. Nicht ein Monster bedroht das Volk, sondern König Idomeneo selbst ist der Unterdrücker. Als er seinen Sohn (und dann die sich als alternatives Opfer anbietende Ilia) abschlachten will, greifen nicht die Götter ein, sondern Abgesandte des Volkes. Eine Revolution findet statt: Die Kreter machen Idamante zum neuen König. Eine packende Inszenierung, die dank starker Bilder auch im Repertoiremodus ihre Kraft wohl nicht einbüßen wird.