Lyon. Für den Opernfreund war es der Beginn eines Festivals, für den Profi - nun ja, so etwas wie ein Branchentreffen. Intendanten, Agenten, Journalisten: Das Opernhaus von Lyon übt einen erstaunlichen Magnetismus auf das Fachpublikum aus. Auch das deutschsprachige Feuilleton zog es am Wochenende in dieses seltsame Gebäude an der Rhone: die Fassaden halb historisch, halb heutig, in den Innenräumen reichlich Düsternis, durchstochen von grellen Lichtquellen. Ein wenig wie auf dem Todesstern aus "Star Wars".

Freilich: Ein Grund für die hohe Journalistendichte ist, dass Intendant Serge Dorny die Reisekosten übernimmt. Es ist jedoch nicht der einzige. Der 52-jährige Belgier, groß geworden unter Gerard Mortier, seit 2003 Chef in Lyon, hat Visionen, und er weiß sie in wirkmächtige Worte zu kleiden. "Ohne Freiheit keine Kunst, ohne Kunst keine Freiheit", sagt er, wenn er auf den "Charlie Hebdo"-Terror zu sprechen kommt. Und: "Kunst ist dafür da, die Unterschiede zwischen den Menschen zu verstehen. Aber vielleicht haben wir der Kunst diese Kraft genommen und sie zu einer Form der Unterhaltung gemacht."

Stöhnend bewegte Form


Wohlfeile Sonntagsreden? Nicht für Dorny. Der Mann kann anecken. Im Vorjahr wäre er eigentlich zum Intendanten der Semperoper Dresden aufgestiegen. Die dortige Kulturpolitik hat ihn aber gekündigt, bevor er im Dunstkreis von Stardirigent Christian Thielemann Nägel mit Köpfen machen konnte. Nun also werkt er wieder in Lyon. Zwar stimmt es: Rein quantitativ betrachtet, ist das Haus mit seinen 80 bis 90 Opernabenden pro Saison eine Marginalie neben den europäischen Repertoiretankern. Vor deren grauer Silhouette aber hebt es sich buntscheckig ab. Regelmäßig kredenzt man hier druckfrische Noten, macht Strandgut der Musikgeschichte wieder verkehrstüchtig oder greift zum Starkstromkabel, um Klassiker mit Aktualität aufzuladen: Wajdi Mouawad, Künstler aus dem Libanon, soll nächstes Jahr Mozarts "Entführung" mit der grausigen Gegenwart von Boko Haram kurzschließen. Das Opernhaus Lyon, es brennt vor allem für das Heute.

In der Praxis kann solche Risikolust freilich auch leicht scheitern. Wie zu Beginn des heurigen Festivals, das nun bis Ende März drei Opern als "Geheimnisvolle Gärten" erkundet und mit Franz Schrekers "Die Gezeichneten" (1918) begonnen hat. Wuchtige Wagnerwogen umspülen eine Handlung, so recht nach dem Sex-and-Crime-Geschmack des Jugendstils: Alviano, der verkrüppelte, verhemmte Aristokrat, hat eine Vergnügungsinsel namens Elysium bauen lassen. Die benützen andere Blaublüter vor allem dazu, um dort entführte Mädchen zu vergewaltigen. "Die Schönheit sei Beute des Starken!" lautet ihr Kernsatz, und Schrekers schwüle Musik - sie scheint als stöhnend bewegte Form ganz auf ihrer Seite.

Nüchtern und heutig betrachtet, ist das natürlich ein Problem. Was tun als Regisseur? Suchte Nikolaus Lehnhoff 2005 in Salzburg sein Heil in der Abstraktion, fährt David Bösch das Werk jetzt an die Wand der Plattitüden. Ob man den Plumpheitsgrad der Produktion daran ermessen will, dass sich der Schurkentrupp öfters in den Schritt greift als Miley Cyrus, oder daran, dass beim Vergewaltigen der Ehering verborgen wird, bleibt Sache des heftig strapazierten Geschmacks. Und leider: Angehörs der großteils überforderten Sänger und eines glanzlosen Haus-Orchesters (Dirigent: Alejo Pérez) ist dies ein Schiffbruch auf allen Decks.

Ohrenbalsam dafür am zweiten Abend: Enrico Onofri dirigiert Glucks "Orfeo ed Euridice" auf einem Mittelweg zwischen Schönklang und Originalklang-Inbrunst, und er gebietet mit Christopher Ainslie und Elena Galitskaya über exzellente Protagonisten. Allein: Regisseur David Marton schickt einen zweiten Orpheus ins Unterweltrennen und lässt diesen Mann streckenweise auch singen. Es handelt sich dabei um den Bass Victor von Halem: 74-jährig und entsprechend klangschwer. Ließe sich sein Engagement nachvollziehen, wenn man den anderen Fremdkörper dieser Premiere verstehen würde (einen ins Französische übersetzten, projizierten Text von Samuel Beckett)? Vielleicht.

Deutlich handfester die dritte Premiere. Wobei: nicht weniger speziell. Der "Sunken Garden" von Michel van der Aa blüht nicht im Opernhaus, sondern in einem Theater weiter draußen, wo einem das Personal dunkle Brillen aushändigt und bittet, das Handy auf Flugmodus zu schalten: andernfalls würde man nämlich empfindliche Gerätschaften stören. Die dürften hier tatsächlich auf Hochtouren laufen: "Sunken Garden" ist nicht weniger als eine 3D-Film-Oper. Ein Modegag? Die Technik kommt jedenfalls nicht ganz unmotiviert zum Einsatz: Im Rahmen einer Mysterythriller-artigen Handlung (mit Anleihen an "Vanilla Sky", "Being John Malkovich" und einem Quäntchen "Matrix") landet der Protagonist Toby in einem kreischbunten Garten, der die Traumata seiner Insassen verblassen lässt - eine Art 3D-Elysium für schuldgeplagte Geister.