Die besten Geschichten liefert das Leben selbst. So abgedroschen das auch klingen mag, aber das belgische Künstlerkollektiv namens BERLIN folgt seit seiner Gründung 2003 mit beachtlichem Erfolg genau diesem Prinzip. In ihren Medieninstallationen setzen sie unglaubliche Fundstücke des Alltagslebens und aberwitzige Realitätssplitter zusammen.
Ihre jüngste Arbeit - "Perhaps all the Dragons. Horror Vacui # 3" - ist derzeit im Rahmen der Wiener Festwochen im Festwochenzentrum im Künstlerhaus zu sehen. Die Künstler Bart Baele und Yves Degryse haben dafür weltweit Menschen getroffen und interviewt. Es sind wahre Geschichten von realen Menschen, die sie in Magazinen, Zeitungsmeldungen, auf YouTube oder per Zufall gesammelt haben - 30 Episoden über private Entscheidungen mit großen Folgewirkungen.
Das Publikum nimmt an Holzstühlen Platz, jeder hat vor sich einen Monitor - 30 Bildschirme und 30 Stühle sind ellipsenartig im Saal angeordnet. Bei Vorstellungsbeginn werden alle 30 Apparate eingeschalten, die Protagonisten tauchen auf der Mattscheibe auf und ein babylonisches Stimmengewirr hebt an - jeder Protagonist erzählt in seiner Landessprache mit englischen Untertiteln knapp 15 Minuten lang aus seinem Leben. Jeder Zuschauer erhält per Anweisungen einen eigenen Parcours, sieht in der knapp 80-minütigen Performance fünf Episoden, wobei inhaltlich jeder einen völlig anderen Theaterabend erlebt.
Kafkaeske Husarenritte
Die kafkaeske Lebensgeschichte eines Inders, der Heldenmut eines russischen Oberst, ein von Wahnvorstellungen geplagter Franzose, die Forschungen eines Stockholmer Soziologieprofessors und Kriegserinnerungen eines Wiener Operndirigenten bildeten die Dramaturgie für die Rezensentin. Es waren sorgfältig ausgewählte, abwechslungsreiche Berichte, die unfassbar erscheinen.
Ein Beispiel? Ein Inder wurde von seinen Cousins für tot erklärt und konnte auch nach 18-jährigem Kampf den korrupten indischen Beamtenstaat nicht von seiner wahren Identität überzeugen. Ein Fall für Kafka. Nur zu übertreffen von Stanislaw Petrows Husarenritt: Der Sowjetoberst verhinderte am 25. September 1983 einen Atomkrieg, indem er den vom Computersystem gemeldeten Nuklearangriff der USA als Fehlarm einstufte. Dass die Welt haarscharf an einem Vernichtungskrieg vorbeischrammte, wurde erst in den 1990er Jahren publik.
Ein chinesisches Sprichwort besagt: "Wer die Wahrheit sucht, darf nicht erschrecken, wenn er sie findet." Das Künstlerduo BERLIN erweist sich als unerschrocken.
theater
Perhaps all the dragons.
Horror Vacui # 3
Festwochen-Zentrum im Künstlerhaus, Plastikersaal
Wh.: 19.-22. Mai