
Wien. Jeden Abend gönnt sich Herr Crammer ein Glas Wein. Er trinkt darauf, überlebt zu haben - und er tut dies an dem Ort, an dem er beinahe sein Leben verloren hätte. Herr Crammer lebt in einer Wohnung im Leopold-Figl-Hof. Der Gebäudekomplex wurde 1968 auf dem Grundstück des einstigen Hotels Metropole errichtet - das ehemalige Luxushaus, ein prächtiger Ringstraßenbau, war von 1938 bis 1945 die Folterzentrale der Wiener Gestapo. Während der NS-Zeit wurden hier zwischen Stuck und Marmor mehrere 10.000 Menschen erfasst, verhört, gefoltert. Darunter auch der damals 17-jährige Schüler Herbert Crammer.
Dessen Vergehen: Er verteilte Flugblätter gegen das Regime. "Es war ein Abenteuer. Ich bin dankbar dafür, das alles erlebt und überlebt zu haben", sagt Crammer heute. Als Zeitzeuge nimmt der Überlebende nun an der Reihe "Into the City" teil, das sich im Rahmen der diesjährigen Festwochen unter dem Titel "Hotel Metropole. Der Erinnerung eine Zukunft geben" mit dem Gedenken an das Kriegsende vor 70 Jahren auseinandersetzt.
Neue Formate
Gemäß dem Vorhaben der Reihe, welche die Stadt zur Bühne erheben will, verortet der Radiojournalist und Initiator Wolfgang Schlag die Gedenkveranstaltung am ehemaligen Standort des Grand Hotels: 900 Beamte wickelten unweit des Wiener Morzinplatzes in Luxus-Suiten ihr grausames Geschäft ab - ab Jänner 1945 wurden systematisch Akten vernichtet, die Täter flohen mit falschen Papieren, tauchten unter. Knapp vor Kriegsende wurde das Gebäude durch Bomben zerstört; bis in die 1960er Jahre lag das Areal brach, dann entstand hier jener Wohnhauskomplex, in dem Crammer bis heute lebt.
"Irgendwie ist der Platz kontaminiert, eine Leerstelle", sagt Wolfgang Schlag. "Wir versuchen deshalb, diesen Ort und dessen Geschichte wieder ins Bewusstsein zu rufen." Geografischer Dreh- und Ankerpunkt der Aktionen ist dabei das ehemalige Hotel mit angrenzendem Morzinplatz. In einem verwaisten Lokal am Morzinplatz wird heute, Donnerstag, eine temporäre Ausstellung eröffnet, mit Werken von Arye Wachsmuth und Sophie Lillie, Isa Rosenberger und Lisl Ponger. Neben anderen Aktivitäten im öffentlichen Raum finden in den kommenden vier Wochen auch geführte Stadtspaziergänge statt, dazu Lesungen, Konzerte, Performances, Filmprogramme und ein zweitägiges Symposium (siehe Programmhinweise).