Zu Beginn ist die Bühne leer, wie in dichten Nebel getaucht. Am Ende weicht das Dunkel sanfter Morgenröte. Zwischen den jähen Lichtwechseln hat sich im Theater an der Wien ein eigentümliches, 80 Minuten langes Rätselspieltheater ereignet. Romeo Castelluccis jüngste Inszenierung "Go down, Moses", die seit ihrer Uraufführung im Herbst 2014 für kontroverse Reaktionen sorgte, gastiert derzeit bei den Wiener Festwochen - und bietet bizarre spirituelle Nachhilfe, die jeden Katechismus sprengt.

Loses Episodenspiel

Bei der szenischen Versuchsanordnung geht es keineswegs um die biblische Figur des Moses; mit narrativen Ausdeutungen kommt man dieser Aufführung ohnehin nicht bei. "Go down, Moses" ist ein lose geknüpftes
Episodenspiel, das Fragen aufwirft und Antworten verweigert. Castellucci zeigt zunächst ein Panorama der Gegenwartsgesellschaft: Acht Personen gehen in sinnloser Geschäftigkeit auf der Bühne beständig aneinander vorbei. Blackout. Eine meterlange Walze wird auf das Podium geschoben. Ohrenbetäubend lautes Motorengeräusch. Dann wieder fallen zottelige Perücken vom Bühnenhimmel, die Maschine rollt sie ratternd auf. Szenenwechsel. Eine junge Frau bricht auf einer Restauranttoilette zusammen, sie krümmt sich vor Schmerzen, leidet unter immer stärkeren Blutungen.

Das nächste Bild: ein schmutziger Müllcontainer, dazu Schreie eines Neugeborenen. Schnitt: Die Schmerzensfrau sitzt, in Decken gehüllt, nun in einer Art Polizeikommissariat. Offenbar hat sie in der Toilette ihr Baby auf die Welt gebracht, das Neugeborene dann ausgesetzt. Die erschöpfte Mutter gibt das Versteck des Säuglings jedoch nicht preis, vielmehr beginnt sie im Verhör spirituelle Wahnvorstellungen auszubreiten: So behauptet sie, Moses geboren zu haben; damit der Prophet sein Volk erneut aus der Sklaverei befreien könne. In ihrer Verblendung erscheint die grausame Tat der Kindesweglegung als notwendiges Opfer, um die Erlösung eines nicht näher benannten Volkes vorzubereiten.

Fixgröße der Bühnenavantgarde


Romeo Castellucci ist bekannt dafür, große Themen in provokanter Zuspitzung auf die Bühne zu bringen und dabei Fragen zu stellen, die der Zuschauer sich selbst beantworten muss. Zu Beginn der 1980er Jahre gründete der italienische Regisseur das Theaterkollektiv Societas Raffaello Sanzio; seit damals ist der heute 55-Jährige zu einer Fixgröße der europäischen Bühnenavantgarde avanciert; inspiriert vom Reduktionismus des antiken Dramas und Antonin Artauds Überlegungen zum Theater der Grausamkeit, hat Castellucci eine bild- und klanggewaltige Bühnenästhetik entwickelt, die mit wenig Dialog auskommt und im Idealfall ungeheuer suggestiv wirkt. In Wien war Castellucci bereits wiederholt bei den Festwochen zu Gast, zuletzt mit seiner Operninszenierung "Orfeo ed Euridice", bei der er via Live-Stream eine Wachkoma-Patientin in die Aufführung integrierte; mit "Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn" glückte ihm in Wien eine atemraubende Abrechnung mit der Conditio Humana. Häufig sind Castelluccis Inszenierungen von einer überwältigenden Bildmacht. "Go down, Moses" operiert dagegen mit einer optischen Sprache, die allzu assoziativ und damit beliebig geraten ist.

Spiel kippt ins Vage


Der zweite Teil der Aufführung mündet in eine geradezu banale Pointe: Die verstörte Mutter wird in eine MRT-Röhre geschoben; die Geräusche des medizinischen Riesenapparats steigern sich bald zu buchstäblich schrecklichem Lärm. Was passiert hier? Welche Diagnose wird gestellt? Spätestens an dieser Stelle lässt Castellucci das Spiel vollends ins Vage kippen.

Die Bühne gleicht bald einer Höhle wie aus der Steinzeit. Die Schauspieler sind nackt, lehmbeschmiert und tragen Neandertaler-Masken. Eine Frau hält einen toten Säugling im Arm, verscharrt das Kind, wird erneut von einem Mann beschlafen. Die Horde zieht weiter. Eine Figur malt mit in Farbe getauchten Händen groß S.O.S. auf einen Gazevorhang. Lautes Grollen. Nun liegt jene Frau, die zuvor Moses geboren haben will, in der Höhle, schläft. Morgenröte. Ende der Vorstellung.

War das alles nur ein Traum? Eine Wahnvorstellung? Eine spirituelle Vision, wonach die Welt einen Erlöser brauche? Oder schlicht ein überspannter Bilderbogen, der zwischen Kitsch und Apokalypse pendelt? Zwischen Physik und Metaphysik? Castellucci präsentiert selten bündige Antworten. In "Go down, Moses" sind aber nicht einmal die Fragen ausformuliert. Alles versinkt im Nebel der Interpretation.