
"Ich will mein Leben sinnvoll gestalten: Ich will Sport, gesundes Essen, Revolution, eine Zigarette, um 11 Uhr schlafen gehen", sagt Katerina. Volksbühnen-Schauspielerin Lilith Stangenberg sieht als Katerina wie ein kreuzbraves russisches Mädchen aus - geflochtener Zopf, folkloristisch bestickte Tunika. Die sanftmütige Darstellung passt dennoch perfekt in ein westlich-liberales, urban-intellektuelles Milieu. Junge Frauen wie diese Katarina kaufen Fair-Trade-Produkte, ernähren sich vegan und lesen Bücher von Giorgio Agamben.
"Ich will Kapital zusammenraffen, ich liebe das Chaos, ich will mich amüsieren", sagt dagegen Gruschenka. Mit gefährlich hohen Stöckelschuhen und Schlabber-T-Shirt verkörpert Volksbühnen-Veteranin Kathrin Angerer den Gegenpol. Gruschenka ist laut, unbeherrscht, maßlos - eine schillernde Außenseiterin und anarchistische Straßenpartisanin.
In der angestrebten Ost-West-Dichotomie repräsentiert Angerer den wilden, verrohten, leidenschaftlichen Osten, in dem alles erlaubt scheint und in dem man sich mit wütend gereckter Faust in den Untergang säuft.
Orientierungslosigkeit
Zwischen diesen beiden Frauen und Weltanschauungen irrlichtern die Brüder Karamasow im Zugriff von Frank Castorf. Der Soldat Dmitrij (Marc Hosemann), der Intellektuelle Iwan (Alexander Scheer), der Mönch Aljoscha (Daniel Zillmann) und Lakai Smerdjakow (Sophie Rois) sind hier extrem zerrissene Figuren, geplagt von widersprüchlichen Emotionen, unfähig, Position zu beziehen. "Wir alle gehören zu der ekelhaften postsowjetischen Generation. Wir haben nichts, keine Ziele und Prinzipien", heißt es einmal bei Castorf.
Der Volksbühnen-Intendant ist nach längerer Pause wieder bei den Festwochen zu Gast. Auf einem Fabriksgelände in Liesing mit Namen "F23 Zusammenbau" wuchtet der 64-Jährige mit elfköpfigem Ensemble die Geschichte der Brüder Karamasow auf die Bühne. Fjodor Dostojewski verhandelt in seinem 1880 veröffentlichten Opus die großen Themen der Menschheit: Vater-Sohn-Konflikte, Brüderrivalität, Geschlechterkämpfe, das Ringen um Sinn und Moral. Die Frage, was mit Menschen geschehe, wenn es keinen Gott gäbe.
Vorderhand geht es um einen Kriminalfall: Der alte, verkommene Fjodor Karamasow wird Opfer eines brutalen Raubmordes - und jeder seiner Söhne hat ein Motiv. Im Roman beginnt die komplizierte Suche nach dem Täter. Verurteilt wird der falsche - der älteste Sohn Dimitrij, weil er drohte, den Vater umzubringen, da beide in dieselbe Frau verliebt waren.