"Interessieren Sie sich für Platonov?" Mit einer Frage beginnt Frank Castorfs Inszenierung von "Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen". Andrej Platonov zählt zu den wenig bekannten russischen Dichtern, Castorfs Bühnenfiguren bezeichnen ihn dennoch als "Genie der russischen Prosa". In den 1930er Jahren galt der Arbeitersohn als aufstrebender revolutionärer Schriftsteller; wegen seiner kritischen Texte wurde er bald mundtot gemacht. Platonovs Hauptwerk, die Revolutions-Groteske "Unterwegs nach Tschewengur", zwischen 1928 und 1939 verfasst, konnte erst in den 1970er Jahren posthum in Paris erscheinen; in Moskau erstmals 1988. Platonov starb 1951 im Alter von 52 Jahren an Tuberkulose, verarmt und vergessen.

Im Giftschrank

"Unterwegs nach Tschewengur", verwahrt im Giftschrank von Stalins Zensoren, ist ein Lehrstück über das Scheitern revolutionärer Utopien. Die Hauptfigur, Dvanov, reist auf der Suche nach dem gewissermaßen natürlich gewachsenen Sozialismus durch das vom Bürgerkrieg zerstörte Russland und erlebt - ähnlich wie Don Quijote auf seinem Trip durch die Mancha - eine Reihe von Abenteuern. In dem von Hunger und Elend geknechteten Provinzdorf Tschewengur stößt Dvanov schließlich auf eine bizarre Kommunismus-Abart: Schildbürger versuchen hier, die Welt aus den Angeln zu heben.

Auf der weitläufigen Bühne der Halle E im Museumsquartier hat Ausstatter Aleksandar Cenić für "Tschewengur" einen gigantischen Bühnenmaschinenraum entworfen, der aus Versatzteilen montiert ist, die wiederum effektvolle Auftritte ermöglichen: Da ist ein riesenhaftes Windrad (Don Quijote!), auf dem die Bühnenfiguren im Lauf des Abends wiederholt herumturnen; es gibt eine Lokomotive aus der Stalinära zu sehen, einen Wachturm, eine windschiefe Bauernkate aus uraltem Holz, einen Hühnerstall mit echtem Huhn, die obligatorische Castorf-Leinwand. Dazu Heu auf dem Bühnenboden.

"Tschewengur" feierte bereits vergangenen Herbst in Stuttgart Premiere. Das Stück ist Castorfs zwölftes Gastspiel im Rahmen der Wiener Festwochen, und es gehört nicht zu den herausragenden Inszenierungen, die man von dem Weltregisseur aus Ostberlin gesehen hat. Verglichen mit dem geradezu manisch-zerfransten Gedankenspiel um die "Brüder Karamasow" aus 2015, stellt sich "Tschewengur" fast schon naturalistisch-linear dar.

Die fünfstündige Aufführung bietet die Castorf-typischen Stilmittel: Von Pelzmützen über Glitzerminikleider bis High Heels changiert die Kostümauswahl von Adriana Braga Peretzki stilsicher zwischen Trash und Glamour; die Musik spannt einen Bogen von Pjotr Leschenko bis zu Mick Jagger; das zehnköpfige Ensemble schaukelt sich in absichtsvollem Chaos bis in greifbare Nähe des Nervenzusammenbruchs. Die übliche Castorf-Leistungsschau.

Dazwischen funkeln Szenen, in denen der Regisseur Menschen porträtiert, die mitten im Leben wie erstarrt wirken. Er bringt die Verelendung seiner Helden in aller Härte auf die Bühne: Eine Mutter füttert ihr Baby Nummer 18, eine in Lumpen gewickelte Puppe, so lange mit Cola ab, bis es daran zugrunde geht, in einem Kübel entsorgt wird. In einer geradezu dadaistisch anmutenden Nonsens-Szene tänzelt später eine Primaballerina über die Bühne, hechtet ein Kosak über das Podium. Auch die Sitzung der KP-Kader gerät zu einer perfekt choreografierten Lachnummer. Über weite Strecken findet das Spiel auf einer leergeräumten Bühne statt; die Szenen werden hinter verschlossenen Türen live von Kameramann David Wesemann auf die Leinwand am Bühnenhintergrund projiziert. Ergänzt werden die Live-Aufnahmen von Filmschnipseln aus der Sowjetära und vorab gedrehtem Material - so das finale Gemetzel, bei dem die letzten Bewohner Tschewengurs in einem Maisfeld gelyncht werden. Es fließt literweise Theaterblut.

Die letzte Schlacht im Namen des Sozialismus überlebt kein Bewohner Tschewengurs. Der Traum von einer besseren Welt: ausgeträumt.