
In Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Inszenierung von Heiner Müllers in Ost und West viel diskutiertem Schauspiel "Der Auftrag" (1979) ist die Zeit in der Tat aus den Fugen geraten. Der 1995 verstorbene Autor fungiert - dank eines Mitschnitts von 1980 - aus dem Off als Sprecher seines eigenen Textes, der auf der Bühne (Jo Schramm, Anna Sörensen) in Bildern und Aktionen eines fantasievollen Zirkusspektakels neu gedeutet und gewissermaßen kommentiert wird. Für den variantenreichen musikalischen Sound sorgt die Live-Band "Die Tentakel von Delphi".
Müller nimmt in seinem Werk, zu dem ihn Anna Seghers Erzählung "Das Licht auf dem Galgen" angeregt hat, das Ende gleich am Anfang vorweg: Drei vom Pariser Revolutions-Konvent nach Jamaica entsendete Emissäre konnten ihren Auftrag, einen Sklavenaufstand gegen die britische Kolonialmacht anzuzetteln, nicht erfüllen.
Vorerst siegesgewiss
Bei der Ankunft hingegen präsentierte sich das revolutionäre Trio, wie sich später zeigen wird, noch siegesgewiss in den Farben der Trikolore: Der Arzt Debuisson - Corinna Harfouch im weißen Pierrot-Kostüm -, der schwarze Sasportas (Hagen Oechel), ein ehemaliger Sklave, im blauen Umhang und der bretonische Bauer Galloudec (Janko Kahle) im roten Mantel.
Doch Debuisson, selbst Sohn eines Sklavenhalters, hat die Seiten gewechselt und wird zum Verräter, der nicht bereit ist, auf "ein Stück vom Kuchen dieser Welt" zu verzichten. Sasportas, der den Aufstand der Schwarzen gegen die Weißen prophezeit, landet in Port Royal am Galgen; und Galloudec, dem ein Bein amputiert wurde, vertraut am Totenbett einem jungen Matrosen einen die Sachlage erläuternden Brief an den Pariser Auftraggeber an. Aber auch in Frankreich sind, seit Napoleon herrscht, "Liberté - Égalité - Fraternité" mittlerweile Schlagworte von Vorgestern. Der Ex-Revolutionär Antoine, der sich in einer überdimensionalen Teekanne verbarrikadiert, will den die rote Fahne schwingenden Boten möglichst schnell loswerden.
Das mit Grotesk-Karikaturen bestückte "Zirkus"- und "Variété-Theater der Revolution" gerät zum Horror-Szenarium, in dem auch Leitfiguren wie Danton oder Robespierre letztendlich dem "Beil der Gerechtigkeit" nicht entgehen. Von der Tonspur erklingt, in mehrfach wiederholter Schleife, das Fazit: "Die Revolution ist die Maske des Todes. Der Tod ist die Maske der Revolution." Dass eine Revolution den Menschen den Weg in die Freiheit weist, bleibt Utopie. Nicht nur in Frankreich.
Im zweiten Teil des Abends rückt Corinna Harfourch - nun auch sprachlich - in den Mittelpunkt des Geschehens und bietet eine rasante, mitreißende Interpretation von Müllers in die Handlung eingeschobener Geschichte vom "Mann im Fahrstuhl", der, zum Großen Vorsitzenden bestellt, nach diesem in den Etagen eines riesigen, bestens gesicherten Gebäudes Ausschau hält - und sich mit einem Mal irgendwo in Peru wiederfindet. - Dass der "Verräter" Debuisson zuletzt einen Hauch von schlechtem Gewissen verspürt, sei am Rande vermerkt.
Symbolik zu enträtseln
Kühnel und Kuttner konfrontieren das Publikum während eineinhalb Stunden mit einer aussagestarken, zwischen Witz, Drastik, Poesie und Traumsequenzen fluktuierenden Bildsymbolik, wobei die verschiedensten Stilmittel und technischen Tricks zum Einsatz kommen.
Dass sich dies in Kongruenz mit dem gesprochenen Text manchmal gar nicht so eindeutig enträtseln lässt, ist eine andere Sache. Eindrucksvoll und gespannte Aufmerksamkeit fordernd ist es allemal. Die eigenwillige Kombination von Textauthentizität und assoziativer, raffiniert ausgeklügelter Verbildlichung bewährt sich indessen. Nicht zuletzt dank eines exzellenten, in Höchstform agierenden, mit einhelligem Beifall bedankten Ensembles.