"Alles ist ganz genau das, wonach es aussieht", eröffnet Pianist Bendix Dethleffsen mit einem Text über die Kurzsichtigkeit den Abend. Im Anschluss daran wird er den aussichtslosen Kampf gegen die immer wieder vom Klavierpult rutschenden losen Notenblätter grandios verlieren. Es liegt am liebevollen Blick von Christoph Marthaler, dass dieses Scheitern an den Mühen der Wirklichkeit die Figuren nicht bloßstellt. Schon in der Anfangsszene von "Isoldes Abendbrot" zeigt der Schweizer Regisseur ein zentrales Element seiner Arbeit - die würdevolle Poesie der Aussichtslosigkeit. Diesen gütigen Blick auf dem Menschen in all seiner Unzulänglichkeit und Verlorenheit behält Marthaler für die folgenden zwei Stunden bei. Verfeinert ihn durch Texte, durchzieht und konterkariert ihn mit Musik - von John Dowland bis Richard Wagner, von Elvis Costello bis Juliette Gréco.
Für die Wiener Festwochen hat Marthaler ein berückendes, humorvolles und liebevoll verschrobenes Stück Musiktheater gestaltet. Am Wochenende gastierte die Koproduktion mit Basel und Hamburg im Museumsquartier.
Karussell der Identitäten
Eine Hotelbar mit braunen Leder-Sofas, ein Piano, grüner Spannteppich. Wände und Decke sind mit dunklem Holz getäfelt (Bühne: Duri Bischoff). Der elektrische Kamin kann per Knopfdruck zum Harmonium umgedreht werden, das Licht ist schummrig. Die Barhocker drehen sich bei Bedarf um den Tresen. Ein Karussell der Identitäten. Das menschliche Inventar fügt sich homogen in diese heruntergekommene, aber heimelige Tristesse: Raphael Clamer, Ueli Jäggi und Graham F. Valentine bilden ein grandioses, der Wirklichkeit entrücktes und wunderbar singendes Herren-Trio. Ebenfalls in Braun gekleidet umflattern sie, sich und einander im Weg stehend die Bardame Anne Sophie von Otter, die ihnen im Chemielabor eher Gift als Drinks mischt. Musikalisch ist die Mezzosopranistin das Zentrum der Produktion, vom Volkslied über Schubert und Korngold bis zum französischen Chanson - was sie singt, gelingt ihr stimmig. Auch szenisch ist die schwedische Sängerin wandlungsfähig, mutiert von der Bardame zur Chanson-Diva und fällte auf Knopfdruck wieder aus ihren Rollen heraus.
Marthaler setzt mit diesen Versatzstücken hintersichtige Kontrapunkte. "Déshabillez-moi" haucht von Otter da im roten engen Glitzerkleid, Clamer windet sich zu ihren Füßen in einem famosen Schlagwerkballett, die beiden anderen Herren entkleiden einander währenddessen auf der neugierigen Suche nach den Waschanleitungen in der Kleidung des jeweils anderen. Interaktion zwischen den Figuren gibt es kaum. Wenn, dann ist sie selten vom Gelingen geprägt. Diese humorvolle Wehmut der Entrücktheit, die auch entsteht, als Ravels "Bolero" zum inbrünstigen Johlen wird, ein sprechender Humidor mit feuchter Aussprache thematisiert oder "The Mole In A Hole" besungen wird, durchzieht den Abend, hat aber nie etwas Bedrückendes. Scheinbare Banalität und seelische Tiefenschichten, die sich in der Musik auftun - von diesem Spannungsfeld lebt der Abend. Fein gegossen in brüchige Stimmungen und stimmige Brüche.
Der Welt abhanden gekommen
Es ist keine Produktion, die sich über das Verstehen erschließt. Marthaler Stärke liegt jenseits der Vernunft. Und zu "Isoldes Abendbrot" sind sowieso nur die geladen, die spurlos verschwunden sind. Marthaler widersetzt sich einmal mehr der Einordenbarkeit, zelebriert die Langsamkeit, den tiefen Sinn des Absurden und das Verlöschen an fernen Ufern der Seele. Der Logik der Vernunft entzieht er sich. Das macht seine Bilder so treffsicher, denn sie zielen auf den Menschen in all seiner Unzulänglichkeit. Alles kann dabei Inhalt werden, was zählt, ist der Blick - vom Quietschen der Ledersofas bis zum Mikrofon, das von Otter hingebungsvoll mit einer Topfbürste putzt.
"Ich bin der Welt abhanden gekommen", singt sie zum Finale. Gustav Mahlers wundersames Lied verleiht der Produktion dann noch eine unverhofft politische Dimension: Man ist als Zuseher dankbar dafür, der Welt für zwei poetische, pointierte und tief anrührende Stunden abhanden gekommen zu sein.