
Es ist etwas faul im Staate Dänemark. Um es hier zu riechen, muss man kein Spürhund sein. Unter hohen Blümchentapeten sind die Sitten verrottet. Das Verhältnis des Prinzen Hamlet zu seinem Onkel ist nicht nur darum belastet, weil Letzterer das Leben des Königs ausgelöscht hat und sich nun anschickt, die Witwe Gertrud zu heiraten. Ein Einvernehmen mit diesem Oheim ist auch darum schwer herzustellen, weil Hamlets Liebe zur eigenen Mutter über Tabugrenzen hinausschießt - was diese Gertrud in Spitzenstrümpfen auch noch nach Kräften unterstützt.
Zwar kann sie Hamlets Zorn über die Lage fürs Erste durch ödipales Petting kalmieren. Weil Gertrud aber andere Geschäfte rufen (Stichwort: der neue Gatte Claudius), besorgt sie dem Sohn eine Dame vom Fach. Ophelia heißt sie, und zeigt sogleich Ende-nie-Beine und weiße Unterwäsche, um den Trotzkopf zu befrieden. Das klappt leider viel besser, als erhofft: Weil sich Hamlet wirklich in Ophelia verliebt, sieht Gertrud ihren Einfluss schwinden. Also muss auf ihr Geheiß noch einmal der böse Onkel ran - und Ophelias Leben beenden. Danach durchbricht Hamlet endlich sein Korsett aus Weltschmerz, Lethargie und Pubertätspathos und tut etwas.
Er lässt sich von Claudius töten.
Braten in die Röhre geschoben
Anno Schreier (Musik) und Thomas Jonigk (Libretto) haben ganze Arbeit geleistet: Im Auftrag des Theaters an der Wiener haben sie eine "Hamlet"-Oper geschrieben, die vom Shakespeare-Drama stark abweicht. Das hat einerseits damit zu tun, dass Jonigk auf Vorlagen des Klassikers Bezug nimmt - auf die "Gesta Danorum" des Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus (um 1200) und auf Francois de Belleforests Kompendium "Histoires tragiques" (16. Jahrhundert). Andererseits befördert er den dänischen Prinz aber auch in ein Idiom, das man aus TV-Serien wie "Vorstadtweiber" kennt. Textzeile Gertrud in Richtung Claudius: "Wo ist meine Taille? Ich gehe völlig aus dem Leim, weil du mir einen Braten in die Röhre geschoben hast!"
Und, kein Witz: Der angesprochene Claudius versucht es hier auch mit einer Charme-Offensive bei Hamlet, nachdem er dessen Vater ermordet hat. Will der Neo-Stiefsohn vielleicht einmal mit ihm angeln gehen? Auf Hamlets schroffe Ablehnung rudert Claudius zurück: Die Vorschläge stammten ohnehin nicht von ihm; Gertrud hätte ihn damit hergeschickt. "Du weißt ja, wie deine Mutter ist. Man widerspricht ihr besser nicht."
Für den Saisonstart hat das Theater an der Wien einen tiefen Opernblick in Hamlets Seele angekündigt. Solche Dialoge jedoch entstammen eher dem Bereich Seifenoper. Auch Küchenpsychologie darf hier köcheln: Andrè Schuen, mit Wallehaar und Jeans anzusehen wie ein junger Antonio Banderas, ergeht sich auf der Bühne vor allem in Teenager-Trotz. Überhaupt wirken die Handlungsträger - der Mörderonkel, die Rabenmutter, der Heuchler-Pfaffe - mitunter wie ein Holzschnittfigurenkabinett.
Schlecht unterhalten wird man trotzdem nicht. Denn der Abend ist (mit zwei Spielstunden) kurzweilig und gekonnt gebaut; vor allem aber verstehen es Jonigk und der (bei seiner siebenten Oper längst nicht mehr auf der musikdramatischen Nudelsuppe daherschwimmende) Komponist, die Grellheit ihres "Hamlet" gekonnt auszuspielen und Brüche beizumengen - wodurch eine Art Tragi-Groteske entsteht.
Geschwätziger Geist
Der tote König hat daran maßgeblichen Anteil. Erweist sich der Geist bei Shakespeare vor allem als rachsüchtig, ist er hier überaus geschwätzig. Counter-Legende Jochen Kowalski versteht es, in dieser Sprechrolle zu brillieren: Im gediegenen Aufzug eines Staatsmannes räsoniert er über seinen idealistischen Sohn, über seine eigene Zeit als König, über die damit einhergehenden Zwänge, sich auch einmal die Hände schmutzig zu machen, und über die Lektion seiner Politlaufbahn: nämlich "schon zu Lebzeiten möglichst tot sein". Diese Exkurse haben umso mehr Wirkung, als sie sich scharf vom sonstigen Sex-and-Crime-Getriebe auf der Bühne abheben, das Christof Loy mit ungestümen Gesten befeuert - und Schreier mit seinem Soundtrack.
Der macht vor allem Effekt. Weder altbacken noch neutönend, bevölkert diese Musik eine Art Zwischenreich, das im ästhetischen Gefolge eines Benjamin Britten den Bühnenbedürfnissen zuarbeitet. Das RSO Wien (Dirigent: Michael Boder) bringt als Motor rhythmische Figuren zum Rattern, unterlegt die Deklamationen der Sänger aber auch mit Klangflächen, in die sich mitunter ein Hauch Funktionsharmonik mischt. Herrlich grotesk: Wenn lärmige, kaputte Walzerklänge aus dem Orchester den heuchlerischen Pastor (Kurt Streit) denunzieren.
Erstklassige Sänger
Bo Skovhus ist sein Part auf den Leib geschrieben: Als Kraftmensch Claudius entstößt er sich gepanzerte Töne. Die Sopranklänge von Marlis Petersen (Gertrud) kleben praktisch am Plafond der Intensität. Andrè Schuen (Hamlet) wiederum changiert zwischen Baritonsamt und Inbrunst und hat in Theresa Kronthaler (Ophelia) eine Sängerdarstellerin von ungestümer Agilität zur Seite.
Auch an diesem Abend ist zuletzt "der Rest Schweigen" - gefolgt von Beifall für ein Werk, das zwar kein Meilenstein, aber Modell dafür sein mag, wie sich zeitgenössische Oper für ein breiteres Publikum schreiben lässt.