Mihail Sosnovschi tanzt
Mihail Sosnovschi tanzt

Es war der Theaterskandal schlechthin. Komponist Igor Strawinski brachte sich bei der Uraufführung am 29. Mai 1913 vor dem Zusehertumult mit Handgreiflichkeiten auf der Seitenbühne in Sicherheit: "Le sacre du printemps" verursachte einen Rieseneklat. "Es ist heute noch ein Stück, das einen überfährt wie eine Walze", sagt Stardirigent Michael Boder im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Es steckt so ein Druck, eine solche Irritation und so eine Kraft in dieser Musik, dass sie heute noch bahnbrechend aufgenommen wird. Dagegen ist das meiste der heutigen Popmusik ein lahmer Kram", so Boder über sein "Lieblingsstück". Er wird am Sonntag, 19. Februar, die Premiere von "Le Pavillon d’Armide/Le Sacre" des Wiener Staatsballetts in der Staatsoper leiten. Vaslaw Nijinsky und das Ballet Russes stehen thematisch im Mittelpunkt des Ballettabends. Der US-amerikanische Starchoreograf und Leiter des Hamburg Balletts John Neumeier kreierte zwei Modernisierungen der Tanzgeschichte-Klassiker.

Für die Pariser Ballets Russes des legendären Impresario Serge Diaghilew schuf der damalige Tanzstar Nijinsky die Choreografie für "Le sacre du printemps" mit dem Untertitel "Bilder aus dem heidnischen Russland". Dementsprechend kehrte er die bisherigen Werte des klassischen Balletts um: Das Stück handelt von einer Frau, die in einem archaischen Ritual dem Sonnengott geopfert wird, und das mit neuartigen, kantigen und stampfenden Bewegungen. Eine gewollte Provokation in einer Zeit der politischen Krisen. "Bereits vor der Uraufführung spekulierte man über das Werk, dass etwa die Menschen sich in Blau und Gelb anmalten", weiß Neumeier, der als Nijinsky-Fan gilt und in seiner Villa die größte Sammlung zu dem Ausnahmetänzer zusammengetragen hat. "Sacre" ist ein zentrales Stück der Tanz- und Musikgeschichte, "das ist überhaupt keine Frage", sagt Boder, "man kann sogar von einem Wendepunkt sprechen". Strawinsky habe ganz neue Klang- und Bewegungsbilder erfunden. "Wir dürfen nicht vergessen, dass in der Musikgeschichte die großen Veränderungen über das Theater liefen. Wendepunkte wie Mozart, Wagner . .. das war immer Theater. Und diese Tradition hat Strawinsky fortgesetzt", erklärt der Dirigent.

Erbarmungsloser Track

Michael Boder dirigiert seinen ersten Ballettabend. - © A. Vasiljev
Michael Boder dirigiert seinen ersten Ballettabend. - © A. Vasiljev

"Sacre" zu tanzen, ist eine Herausforderung: "Die rhythmischen Strukturen sind auch im heutigen Vergleich noch komplex", so Boder. Die Tänzer müssten zählen. "Bei ,Sacre‘ ist es so, dass die Musik nicht das Geschehen kommentiert oder begleitet, sondern da läuft es andersrum - ein erbarmungsloser musikalischer Track." Es war genau dieses Stück, dass Boder dazu veranlasste, erstmalig ein Ballett zu dirigieren. "Ich habe natürlich die Choreografie schon gesehen, und auch die Empfindungen, die Neumeier inszeniert hat, versuche ich einzuarbeiten". 1972 brachte Neumeier seine Version des Skandalstücks auf die Bühne. Zur Zeit der Studentenrevolte entstanden, verzichtet der Tanzschaffende auf eine konkrete Handlung rund um das archaisch-heidnische Frühlingsopfer und ersetzt dies durch Metaphern. Boder sah die Choreografie bereits bei ihrer Uraufführung. "Ich habe als Student in Hamburg Geld verdient, in dem ich bei Neumeiers Kompagnie als Korrepetitor spielte. Außerdem war meine Mutter Balletttänzerin", erzählt Boder.