
Am Beginn muss der Bruch eines Schwurs stehen. Denn ein solcher ("So helfe uns Conchita") wird dem Publikum abgenommen, noch bevor "All the sex Ive ever had" losgeht. Nichts, was hier im Theater Akzent erzählt wird, soll das Theater Akzent verlassen. Das geht leider nicht. Dieser Abend muss gelobt werden, Schweigen ist keine Option. Die Produktion des kanadischen Kollektivs Mammalian Diving Reflex, derzeit bei den Wiener Festwochen zu Gast, vereint eine Handvoll Menschen - zwei Männer und vier Frauen - aus der Altersgruppe 60plus, sie sitzen wie bei einer Podiumsdiskussion an einem Tisch. Dort erzählen sie dem Publikum nicht weniger als ihr bisheriges Leben - das sich großteils über mehr als 70 Jahre erstreckt. Ein Einflüsterer von der Seite gibt den Takt an: Er sagt die Jahreszahlen, die Teilnehmer erzählen, was in dem Jahr passiert ist. Zu jedem Dekadenwechsel wird passende Musik eingespielt und getanzt, 2000 werden sogar Konfettiraketen aktiviert. 1941 geht es los, aus dem Lautsprecher singt es das "Kleine Wegerl im Helenental", die Ältesten am Podium berichten von ihrer Geburt. Naturgemäß geht es noch ein Weilchen gar nicht um Sex: Einige erzählen etwa von kriegsbedingten Familienneuaufstellungen: "Ich hätte lieber auch eine Watschn von meinem Vater gehabt als gar keinen Vater."
Als endlich auch die jüngste am Tisch zu RocknRoll-Schlager-Klängen 1950 auf die Welt gekommen ist, wird fröhlich "Hoch sollen sie leben" intoniert, mit der dritten Strophe: "Sex sollen sie haben, Sex sollen sie haben, drei Mal so viel!" Währenddessen sind manche schon in einem Alter, in dem man sich Fragen zur Geschlechtlichkeit stellt. Einer wird etwa mit hochgehobnen Röcken konfrontiert und stellt entgeistert fest: Da fehlt ja etwas. Während der andere nicht mit Mädchen sprechen darf, denn es gilt der mütterliche Urteilsspruch: "Alle Mädchen sind schlimm."
Im Zeitraffer geht es durch die Jahrzehnte und durch die unterschiedlichsten Beziehungskonstellationen. Im Vergleich zu den umtriebigen Frauen sind die Männer am Tisch (einer schwul, einer hetero) recht monogam. Neben Geschichten von schnellen und langsamen, männlichen und weiblichen Ejakulaten, Männern, die einmal ihr (viel jüngeres!) Alter, dann wieder ihre kriminellen Geschäfte verheimlichen, von Sex im blauen Alfa Romeo bis zu Sex im Swingerclub Frivoli, wird aber auch der Ernst des Lebens nicht verschwiegen. Kinder, die ins Pflegeheim müssen, Sex, der mit Gewalt verbunden ist, untreue Ehemänner, von deren Affären man von den eigenen Kindern erfährt, Partner, die man beim Sterben begleitet.
Gänzlich unpeinlich
Die Übergänge sind oft hart, trotzdem ist der gewaltige Strom an Lebensinformationen dramaturgisch so geschickt kondensiert, dass Berührung und Unterhaltung hier gleichrangig sind. Zwischendurch wird auch das Publikum gefragt, etwa nach exzentrischem Sexspielzeug, erstaunlicherweise geht auch das wegen der einnehmend unaufgeregten Grundstimmung der Produktion gänzlich unpeinlich über die Bühne. Der große Wurf ist hier freilich beim Casting der Laiendarsteller gelungen - in jeder Stadt, in der "All the sex" gastiert, handelt es sich um neues, jeweils ortsansässiges Personal. Mit ungeheuer sympathischer Lockerheit, manchmal unwiderstehlicher Trockenheit und bestechendem Sinn für die vielen Pointen des Lebens lassen die sechs am Wiener Podium völlig vergessen, dass sie ein oft beschworenes Tabu brechen: nämlich als "Alte" über Sex im "Alter" zu sprechen.
Das "Wegerl im Helenental" ist ja bekanntlich "für alte Ehepaare viel zu schmal". Aber sicher nicht für diese Protagonisten und ihre Liebhaber.