Volksmusik, kein Schlager: Christina Zurbrügg macht "etwas ganz anderes als Andreas Gabalier oder Helene Fischer". - © Andreas Müller
Volksmusik, kein Schlager: Christina Zurbrügg macht "etwas ganz anderes als Andreas Gabalier oder Helene Fischer". - © Andreas Müller

Wien. Wiener Musik – was ist das eigentlich? Und wo kommt sie her? Diesen Fragen widmet sich dieses Wochenende die elfte Auflage des "Schrammel.Klang.Festival" mit dem Untertitel "Vom Alpenraum bis Wien", zu dem mehr als 100 Künstlerinnen und Künstler anreisen. Der Austragungsort des dreitägigen Festivals, bei dem insgesamt 13 Bühnen bespielt werden, ist allerdings nicht Wien, sondern der beschauliche Ort Litschau im Waldviertel. Und die Teilnehmer – darunter Agnes Palmisano, Ernst Molden, Christina Zurbrügg, Walther Soyka, Willi Resetarits, die Strottern oder Folksmilch – zeigen dabei die ganze Bandbreite von Wienerlied und Schrammelmusik.

Was die Herkunft der "Typischen Wiener Musik" betrifft, so verweist Ernst Weber, der Doyen der Wiener Volksmusikforschung und Mitherausgeber der "Weana Tanz", auf eine enge Beziehung zwischen dem Alpenländischen und dem Wienerischen, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht. "Das war die Zeit, in der das, was wir heute als Wienerlied bezeichnen, entstanden ist. Melodisch und rhythmisch gesehen hatte der Ländler mit seinem Dreivierteltakt ganz starken Einfluss auf die Wiener Musik."

Man muss dabei bedenken, dass die Wiener Außenbezirke, in denen sich durchwegs das musikalische Leben in dieser Form abgespielt hat, durchaus ländlich geprägt und mit dem niederösterreichischen Raum ganz eng verbunden waren. "Die Künstler, die damals auf Wiener Boden gespielt haben, waren eigentlich in der Mehrzahl Musikanten aus Niederösterreich", so der Musikforscher.

"Um 1900 war das Wienerlied stark vom Ländlichen geprägt"

Zudem kamen sogenannte Nationalsängergesellschaften aus dem Alpenland – sogar aus Tirol – für Gastspiele nach Wien. So lernte die hiesige Bevölkerung auch zum Beispiel den Jodler kennen. "Das ging sogar soweit, dass Wiener in alpenländischer Tracht aufgetreten sind", erklärt Weber. "Es war damals große Mode in allen Bevölkerungskreisen bis in den Adel, solche Veranstaltungen zu besuchen. Das Ländliche in der Musik wurde sehr geschätzt." Und auch jene aus dem nahen und ferneren ländlichen Raum, die in Wien Arbeit suchten, brachten dabei ihre Musik mit. "Um 1900 herum war in den Wiener Außenbezirken das Wienerlied sehr stark vom Ländlichen geprägt." Gleiches gilt für die Schrammelmusik ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hinein ins 20. Jahrhundert.

Einen Unterschied zwischen Stadt und Land macht der Volksmusikforscher aus: "Dort, wo der Ländler herkommt, war er eine Tanzmusik, also eine Gebrauchsmusik, die im Gesellschaftsleben eine Rolle gespielt hat. In Wien wurde er zur Bühnenmusik, also zur Vortragsmusik gemacht."

Im 20. Jahrhundert veränderte sich das Wienerlied dann sehr stark. "Zunächst wurde die internationale Unterhaltungsmusik auch bei uns populär, da nahmen die Wiener Musiker viel auf, vor allem Angloamerikanisches, in der Harmonisierung, in der Melodik, in der Rhythmik", erklärt Weber. "Ländler und Walzer waren natürlich immer noch vorhanden, aber es ist immer mehr im Viervierteltakt dazugekommen."

Weltmusik, Crossover und andere "Wiener Musik"

Nach dem Zweiten Weltkrieg ortet Weber sehr viele verschiedenartige Entwicklungen. In den vergangenen Jahrzehnten ist zum Beispiel die sogenannte Weltmusik entstanden, die sich aus unterschiedlichsten Kulturen speist. "Und es gibt immer mehr Crossover. Wenn man sich die heutigen Gruppen anschaut und auch das Programm jetzt in Litschau, dann ist das so vielfältig – ein Teil ist natürlich noch traditionell, und es gibt viele junge Musiker sowohl in der Stadt als auch auf dem Land, die auf die alten Traditionen zurückgreifen und sie mit neuen Ideen verbinden. Aber es wird auch viel als Wiener Musik betrachtet, das mit Wien eigentlich nur noch die Sprache verbindet."Ein ganz Großer auf dem Gebiet der echten Wiener Musik ist auch Walther Soyka, dem der Musikforscher Weber attestiert, dass er "die ganz alte traditionelle Wiener Instrumentalmusik absolut intus hat und ganz wunderbar interpretiert – er ist aber auch für Neues aufgeschlossen und bei vielem anderen mit von der Partie und verbindet das alles".

Freilich kann einem Interpreten dabei leicht passieren, "in die falsche Schublade gesteckt zu werden", wie Christina Zurbrügg erzählt. Die aus der Schweiz stammende Akkordeonistin, die seit gut 30 Jahren in Wien lebt und sich dort dem Jodeln und Dudeln verschrieben hat, berichtet, dass in ihrem Wikipedia-Eintrag plötzlich "volkstümlicher Schlager gestanden ist, weil das irgendjemand dazugeschrieben hatte – da war ich schon ein bisschen schockiert". Wie definiert sie sich selbst? "Ich mache eine Kombination von zeitgemäßem Jodeln mit Gesang, Rag und Songwriting – das ist für mich ganz weit weg von dem, was etwa Andreas Gabalier oder Helene Fischer machen."

Schweizer Jodler und Wiener Dudlerinnen

Ihre Wurzeln hat sie in der Bewegung der Neuen Volksmusik, die vor gut drei Jahrzehnten entstanden ist. "Damals war das Motto: Wir lassen alle Grenzen fallen und machen Musik, die alle verbindet. In jüngster Zeit hingegen erlebe ich eine gewisse Tendenz, dass wieder sehr genau geschaut wird, woher jemand kommt, welche Nationalität er hat."

Als Schweizerin in Wien erlebt sie das mitunter am eigenen Leib. Anfänglich durch die Schauspiel- und Gesangausbildung nach Wien gekommen, lernte sie in Wien die sogenannten Dudlerinnen kennen und machte einen Dokufilm über sie. "Ich genieße zwar als Schweizerin in Wien einen gewissen Exotenbonus, aber ich wurde nicht nur willkommen geheißen. Da fragten manche schon, warum eine Ausländerin einen Film über Wiener Kulturgut macht. Das war nicht überall akzeptiert."

Gleichzeitig prägten die Dudlerinnen Zurbrüggs weiteren musikalischen Weg: "Ich komme aus einem kleinen Bergdorf im Berner Oberland, da wurde immer gejodelt – für mich wäre das als Kind allerdings vollkommen undenkbar gewesen, jemals Musik in diese Richtung zu machen, das war so traditionell und konservativ." Als aber die Dudlerinnen in Wien sie nach dem Schweizer Jodeln fragten, weckten sie damit wieder ihr Interesse, und sie entdeckte eine neue Liebe dazu.

Zurbrügg stellt dazu merkbare Unterschiede fest: "In der Schweiz haben wir eine große Chortradition mit Solojodlern, während es in Österreich eher Duos, Trios oder Quartette gibt. Auch die Silbengebung ist anders." Das dürfte teils mit dem Nationalsozialismus zusammenhängen: "Als die Volksmusik von den Nazis für ‚völkisches Kulturgut’ benutzt wurde, wollten sich die Schweizer abgrenzen und nichts damit zu tun haben. Da definierte die Eidgenössische Jodelvereinigung ganz klar, wie ein Schweizer Jodler klingt. Das war also ursprünglich eine Schutzfunktion – was natürlich auf der anderen Seite beinhaltet, dass das Ganze konservativer und unlebendiger wirkt."

Volksmusik, Volkstümliche Musik oder doch Schlager?

Zurbrügg selbst grenzt sich mit ihrer Eher-doch-Volksmusik jedenfalls klar von Volkstümlicher Musik und Schlager ab – aber wie definieren diese sich überhaupt? "Tja, das wäre schön, wenn das so leicht zu sagen wäre", meint Rudi Pietsch, Tanzgeiger und vormals Lehrbeauftragter am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der Musikuniversität Wiener. "Es gibt etliche Überschneidungsflächen." Ein paar Abgrenzungen wagt er aber doch: "Die Volksmusik hat einen längeren Bestand, sie ist zeitlos, weil sie sich nicht abnützt. Im Gegensatz dazu hat der Schlager eine sehr kurze Halbwertszeit. Er erreicht in kurzer Zeit große Massen, während die Volksmusik oft weiterexistiert, auch wenn sie gar nicht wahrgenommen wird."

Die Volkstümlichen Musik wiederum lehnt sich stark an die Volksmusik an, "aber sie tut eben nur so, als ob; der Begriff ‚volkstümlich‘ suggeriert, zum Bestand der Volksmusik zu gehören – und nach einer gewissen Zeit wird die Volkstümliche Musik von vielen auch tatsächlich als Volksmusik akzeptiert". Das macht die Unterscheidung noch schwieriger.
Nicht so richtig glücklich ist Pietsch übrigens mit dem "sehr schwammigen" Begriff Weltmusik – "niemand mag ihn, aber jeder verwendet ihn". Die Weltmusik ist jedenfalls global geprägt, verbindet unzählige Genres und lässt sich nur schwer konkret festmachen. Im Gegensatz dazu ist die Volksmusik – auch jene in Wien – "örtlich gebunden und unterliegt weniger dem Zeitgeschmack, das ist eine ganz wichtige Sache".