Was ist wichtig? Was heißt Glück? Was Liebe? Mit Fragen dieser Art sehen sich die Zuschauer gleich zu Beginn des Abends konfrontiert. Im Wiener Volkstheater geht es in "Die Zehn Gebote" weniger um Nuancen - vielmehr um das große Ganze. Um vulkanartige Gefühlsausbrüche, um Katastrophen in X-Large.
Der polnische Regisseur Krzysztof Kieslowski, 1996 im Alter von 54 Jahren verstorben, drehte seinen Filmzyklus "Dekalog" Ende der 1980er Jahre. Die zehnteilige Kinoerzählung, die auf wahren Begebenheiten beruht, verhalf dem Filmemacher zum internationalen Durchbruch. Jeder einzelne Film der Reihe nimmt eins der zehn Gebote zum Ausgangspunkt. Die (meist unbewusst begangenen) Überschreitungen der biblischen Anordnungen - Ehebruch, Diebstahl, Mord usw. - bringen die Protagonisten immer wieder zu Fall. Kieslowski liegt nichts ferner als bigotte Moral; er veranschaulicht auf berückende Weise, wie leicht in einer Welt, die von allen guten Geistern verlassen ist, jede ethische Orientierung verloren gehen kann.
Stephan Kimmig, der in Wien zuletzt an Burg- und Akademietheater tätig war, findet für sein Debüt am Volkstheater eine überaus schlüssige szenische Übersetzung für die Filmvorlage.
Die Bühnenfassung der "Zehn Gebote" spult nicht ein Gebot nach dem anderen ab, sondern verschränkt die einzelnen Filmvorlagen ineinander. In lockerer Szenenfolge werden Figuren und Schicksale methodisch durcheinandergewirbelt, es kommt zu raschen Wechseln, nicht jede Episode wird auserzählt.
Film-"Dekalog Fünf", der das Gebot "Du sollst nicht töten" behandelt (in der Langfassung "Ein kurzer Film über das Töten"), erfährt auf der Bühne etwa massive Kürzungen, was der Intensität indes kaum Abbruch tut: Gábor Biedermann verkörpert einen Rechtsanwalt in tadellos grauem Anzug; er positioniert sich an der Rampe vor dem Mikrofon, berichtet frontal ins Publikum: Wie er darin versagt hat, seinen Mandanten, Mörder eines Taxifahrers, vor der Todesstrafe zu bewahren. Die Exekution - im Film die quälend-nüchterne Darstellung der entsprechenden Vorgänge - kulminiert auf der Bühne in einem markerschütternden Schrei: "Ich will nicht sterben." Die Essenz der Episode.
Einstürzende Schicksalsschläge
Auf dem leer geräumten Volkstheater-Spielort - Seiten- und Rückenwände wurden von Bühnenbildner Oliver Helf raumhoch mit Plastikplanen verkleidet, im Hintergrund steht verloren ein Lastwagen - geht es hoch her. Anja Rabes Kostüme zitieren die 1980er Jahre; Frauen stöckeln in High Heels und Langhaarperücken ziemlich sexy durch die Szenerie, während die Männer in Blouson und Pullunder wie klischeehafte Ossis wirken.
Die emotionalen Höhepunkte werden mit den Mitteln des Bewegungstheaters ausgedrückt. Formidabel gelingt dies beim vierten Gebot (Du sollst Vater und Mutter ehren), in dem eine Vater-Tochter-Beziehung zu weit - und dann doch nicht weit genug geht: Seyneb Saleh und Lukas Holzhausen finden für die seelischen Verknotungen eine berührende Choreografie.
Leider sind in dem achtköpfigen Ensemble nicht alle den hohen darstellerischen Anforderungen gewachsen. Lukas Holzhausen, Gábor Biedermann und Volkstheater-Neuzugang Peter Fasching stechen in wechselnden Rollen hervor, sie stellen ihre Wandlungsfähigkeit bei hoher Präsenz unter Beweis.
In der dreistündigen Aufführungen werden die hochdramatischen Konflikte geradezu rauschhaft aufbereitet, es bleibt kaum Zeit, den einen Schicksalsschlag zu verarbeiten, während der nächste bereits herandrängt. Etliche Figuren und Szenen bleiben so notgedrungen holzschnittartig, es fehlt an Tiefgang, aber gerade dadurch spiegeln die Episoden die galoppierende Beschleunigung der Gegenwart. Einstürzende Schicksalsschläge. Schrecken auf Speed.