Wie gelingt der Aufbruch in ein neues Leben mit über 70? Wie lassen sich jahrzehntelang gewachsene Bande über Nacht kappen? Lässt sich in fortgeschrittenem Alter überhaupt noch den Zumutungen des Alltags entkommen? Der pensionierte Bibliothekar Désiré Cordier, Protagonist aus einem Buch des flämischen Bestsellerautors Dimitri Verhulst, beschließt, im Alter von 73 eine Demenz vorzutäuschen; der Romantitel bringt den Inhalt genau auf den Punkt: "Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau" (2014).
Als eine Ärztin bei dem völlig Gesunden Alzheimer diagnostiziert, triumphiert Cordier innerlich; die Einweisung ins Pflegeheim "Winterlicht" kommt ihm wie ein Freibrief vor. Die angstbesetzte Krankheit wird förmlich zum Fluchthelfer in ein neues, anarchisches Leben. Der Roman entfaltet ein brüchiges Panorama: Das grob agierende und schier verzweifelte Pflegepersonal sieht sich einem bunten Haufen schwerkranker Patienten gegenüber, wobei Désiré, der auch vor seiner Frau Moniek flieht, im Heim - als zentrales Motiv des Romans - unversehens auf seine Jugendliebe Rosa trifft. Er verliert sich in Schwärmereien, welche die demente Rosa freilich nicht erwidern kann.
Kalkulierte Verwirrung
Verhulst lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sein Held der Wahnsinnsidee bei klarem Verstand folgt: Der Bibliothekar in der Pflegeanstalt trägt Züge einer Schelmenfigur, erst gegen Ende des Romans, der zwischen Tragik und Komik schwankt, kippt Cordiers Zurechnungsfähigkeit.
Die aberwitzige Ausgangsidee transformiert Regisseur Luk Perceval bei seinem Debüt am Akademietheater zu dem Theaterabend "Rosa oder Die barmherzige Erde". Zu Beginn des Stücks orientiert sich der flämische Regisseur an der Romanvorlage, mit fortschreitender Handlung verquickt Perceval das Spiel jedoch zusätzlich mit Zitaten aus "Romeo und Julia". Ein kühnes Experiment, das leider nicht ganz aufgeht.
Bühnenbildnerin Katrin Brack hat in das Akademietheater eine stählerne halbrunde Tribüne gebaut, auf der zwölf betagte Statistinnen Platz nehmen. In filigranen Nachthemden, pastellfarbenen Strickjacken und wollenen Hauspantoffeln geben die Seniorinnen eine Art lebende Kulisse ab für das Drama Pflegestation.
Tobias Moretti als Désiré und Romeo in Personalunion schlurft aus dem Bühnenhintergrund, gestreifter Pyjama und Ringelsocken. Er pflanzt sich in der Bühnenmitte auf. Mit hängenden Schultern, wirrem Haar und offenem Mund beeindruckt der Akteur, die Gestalt schräg und schief, mit der mustergültigen Studie eines Demenzkranken. Moretti scheut vor keiner Peinlichkeit zurück: Weg mit der Pyjamahose, siehe da: der Inkontinenzslip! Die Textpassagen werden bald von langen Pausen, unsinnigem Brabbeln unterbrochen: "Rosa piminiellifolia. Rosa majalis. Rosa rubignosa."