Wien. Früher, ja früher! Da sind die Kinopendler mit ihren Filmrollen wie ein Blitz durchs Wiener Stadtgebiet gesaust; kaum war die erste Rolle des aktuellesten Großfilms durch den Projektor durch, wurde umgespult, und ab aufs Motorrad, auf zum nächsten Kino, das den Film zeitversetzt startete. Der Kinopendler, er hatte ganz schön zu tun - und er stand unter Zeitdruck. Denn er musste zurück zum ersten Kino, um die nächste Rolle rechtzeitig zum Ende der ersten ins zweite Kino zu bringen. Logistik in Hochform. Und manchmal mit fatalen Folgen, wie der Dokumentarfilm "Kino Wien Film" von Paul Rosdy (ab 15. März im Kino) zeigt: Nicht selten gerieten die Fahrer in durch den Zeitdruck verursachte verheerende Unfälle. "Und wenn manchmal einer mit gebrochenem Knöchel auf der Straße liegenbleibt - solche böse Unfälle passieren leider auch -, dann übernimmt der nächste Taxichauffeur die Filmrolle und fährt mit seinem alten Klapperkasten genau so schnell und präzise wie wir", zitiert der Film die Zeitschrift "Funk und Film" aus dem Jahr 1947.
Die Geschichte der Wiener Kinolandschaft begann 1896 in der Kärntner Straße, Ecke Krugerstraße, wo die Kinopioniere aus Frankreich, die Brüder Lumière, ein kleines Mezzaninlokal betrieben, in dem sie kurze Filme wie ihre berühmte "Einfahrt eines Zuges" zeigten. Die Lichtspielhäuser erlebten schnell einen Boom - zunächst als Jahrmarktattraktion im Wiener Prater, wo man Filme als "lebende Bilder" anpries.
Als die Kinos sesshaft wurden, das war in den Nuller-Jahren des 20. Jahrhunderts, gab es schnell 74 Kinos in Wien, 41 davon innerhalb des Gürtels. 1914 waren es bereits 150 Kinos, 1928 schon 178. Den Höhepunkt erreichte die Kinodichte unter den Nazis: 1939 waren in Wien 222 Kinos in Betrieb.

Kino im Keller
1912 sorgte eine große Reform der Wiener Bauordnung dafür, dass viele Kinos unter die Erde wanderten. "Da waren die Hausbesitzer, die im Keller Veranstaltungs- oder Kinolokale einbauten, durch die Steuer, die dann die Gemeinde lukrierte, begünstigt bei den ganzen Bauverfahren. Daher gibt es in Wien sehr viele Kellerkinos und Kellerlokale", erzählt der Filmvorführer Florian Pausch im Film. Zu den Kellerkinos gehörten unter anderem das Votiv, das Kosmos, das Stadtkino (als es noch am Schwarzenbergplatz war) oder auch das Haydn.

Einige wenige der alten Kinos haben sich bis heute gehalten - das Apollo-Kino ist heute das stolze Flaggschiff der Constantin-Gruppe, das Haydn ist erfolgreich in ein English Cinema für Originalversionen umgewandelt und auch baulich erweitert worden. Das Admiral Kino ist von Kinobetreiberin Michaela Englert vor dem Zusperren gerettet worden und wird seither in liebevoller Kleinarbeit peu-à-peu renoviert - bei laufendem Vollbetrieb. Auch das Bellaria-Kino, die Breitenseer Lichtspiele und das seit der Eröffnung 1960 kaum veränderte Gartenbaukino zählen zu den letzten verbliebenen Kinojuwelen der Stadt - die allesamt freilich mit finanzieller Unterstützung der öffentlichen Hand betrieben werden, weil die Bespielung sonst nicht mehr wirtschaftlich wäre.

Das große Kinosterben
Viele haben seither dicht gemacht: vom Kolosseum über das Flotten, das Schwedenkino, das Zentraltheater. Im Grunde war auch das Gartenbaukino zum Zeitpunkt seiner Eröffnung schon ein Dinosaurier, der dem Trend entgegenlief: Ab 1960 setzte das Kinosterben, bedingt durch das Aufkommen des Fernsehens, massiv ein, es wurde nur ein wenig verlangsamt durch das Aufkommen von Schachtelkinos, als große Einsaal-Kinos auf Mehrsaal-Kinos in Schuhschachtelgröße umgebaut wurden. 1986, am Höhepunkt des Kinosterbens, gab es in Wien nur mehr 96 Säle in 58 Kinos.
Das Aufkommen der Multiplex-Kinocenter in den 1990er Jahren, zumeist gepaart mit Shopping Mall und Gastronomie, gab dem Kino seinen einstigen Status als Ausgeh-Location ein wenig zurück, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen: Nicht mehr die innenstädtische Lage, sondern die Peripherie wurde zum Hotspot für Jugendliche, das Ambiente vom architektonisch reizvollen Umfeld war für immer dahin. Heute konkurrieren die noch verbliebenen 27 Wiener Kinos mit ihren rund 26.000 Sitzplätzen mit einem neuen, alten Feind: Das Fernsehen hat mit Netflix & Co. neuen Eventcharakter bekommen, dem die Lichtspieltheater vorerst noch keine Konzepte entgegensetzen können (genau wie das klassische Fernsehen auch, das dereinst das Kino bedrohte und jetzt selbst die Konkurrenz spürt).
Alte Magie, neue Probleme
Bleibt nur der Traum der alten Kinomagie: Wenn der Projektor den Film durchzuziehen begann und das Flackern auf der Leinwand mitsamt einem leicht unruhigen Bildstand noch weit entfernt war von der digitalen Sauberkeit heutiger Projektionen. Paul Rosdy versucht in seinem Film "Kino Wien Film", diese Magie durch alte Fotos, Saalpläne, Zeitzeugen und das Einspielen von historischen und zeitgenössischen Wien-Bildern auf den leeren Leinwänden der abgebildeten Kinoleinwände zu beleben. "Ich studierte Originalquellen und versuchte an längst vergangene Zeiten so nah wie möglich heranzukommen", sagt Rosdy. Dabei dürfen die Helden von einst, die den Lichtspielbetrieb aufrechthielten, natürlich nicht fehlen. Zum Beispiel beim kürzlichen Umbau des Haydn-Kinos, wo Rosdy drehte: "Die Betreiber Herbert und Christian Dörfler gewährten mir Zutritt zu den Bauarbeiten und damit auch in die für Wien nicht untypische, tragische Vergangenheit ihres Hauses." Oder auch den langjährigen Vorführer des Gartenbaukinos, Horst Raimann, der ganz locker über seine Berufserfahrung in der Kinotechnik berichtet.
Steht der Branche nun also ein neues Kinosterben bevor? "Ich bin kein Freund vom Wort Kinosterben", sagt Christof Papousek, Geschäftsführer der Constantin Film Unternehmensgruppe, die mit den Cineplexx-Kinos heimischer Marktführer im Kinobereich ist. "Ich bin ein großer Freund vom Wort Strukturwandel, denn wir haben heute mehr Kinobesucher als Anfang der 90er Jahre, wo es keine Multiplexkinos gab. Und es gibt vielleicht weniger Standorte, aber es gibt nicht weniger Kapazität. Es gibt mehr Filme denn je, die auf den Markt kommen, und es gibt mehr Kinobesucher als damals. Nicht als in den 50er Jahren, das ist klar, denn da gab es kein Fernsehen, aber wir müssen schon unterstreichen, dass das Kino heute besser denn je dasteht, in der neuen Zeitgeschichte des Kinos."
Und den Kinopendlern kann auf Wiens Straßen heute auch nichts mehr passieren: Sie flitzen inzwischen digital durchs Internet - von Kinosaal zu Kinosaal und in Echtzeit.