Einer der menschlichsten Momente spielt sich zwischen Tür und Angel ab. "Ich hasse probenspielen, ich hasse probenspielen", sagt die Geigerin leise und eindringlich am Seiteneingang. Dann tritt Sophie Heinrich auf die Bühne im Kampf um den wichtigsten Musikerposten im Orchester, nämlich um die Stelle des Konzertmeisters: Das ist jener Geiger ganz vorn, der die Brücke zwischen Orchester und Dirigent bildet, der sich um lästige Details kümmert, aber in einem Krisenmoment auch einmal mit resolutem Strich die Führungsrolle übernehmen muss, falls die Verbindung zwischen Taktstock und Ensemble reißt.

Wie sind sie überhaupt, diese Einzelmenschen im Großverband Orchester? Haben sie ihre Liebe zum Beruf gemacht? Würden sie sich manchmal lieber verstecken, vor allem, wenn alle Welt ihre Fehler hören kann? Oder wollten sie eigentlich als Star-Solist ganz groß herauskommen, sind dann aber in den Reihen der "Tuttisten" gestrandet?

Die Angst des Hornisten vor dem Kiekser

Malte Ludin und Iva Švarcová haben dem Thema einen herzerwärmenden Film gewidmet: "Tonsüchtig" rückt die Wiener Symphoniker ins Zentrum und verzichtet dabei auf trockenes Datenmaterial. Die Vergangenheit des Klangkörpers wird ebenso wenig nacherzählt wie Programme und Tätigkeitsfelder; überhaupt nimmt der Film Abstand von jedweder Erläuterung aus dem Off. Stattdessen rückt er einige Mitglieder des Kollektivs ins Rampenlicht, gibt ihnen Darstellungsraum für ihre Freuden, Ängste und Anekdoten, ohne dabei in anbiedernde Rührseligkeit abzugleiten. Gefilmt an atmosphärischen Schauplätzen - ein Bläser vor einer Bergkulisse, eine Geigerin mit ihrem Pferd, zwei andere Kolleginnen in einem Ruderboot auf dem Bodensee -, erhalten die Ensemblemusiker eine Bühne als Hauptdarsteller. Die Sprecher wechseln kurzweilig Folge ab, dazwischen mischen sich Szenen aus dem Probenalltag und dem Backstage-Bereich.

Wie ist das mit der Nervosität? Ein Hornist hat eine besondere Methode gefunden, um die Angst vor dem "Kiekser" auf dem heiklen Instrument nicht aufkommen zu lassen: Während seiner Spielpausen blickt er in den Saal, vertieft sich in die Muster an den Wänden und auf dem Boden und fantasiert menschliche Gesichter hinein. Das lenkt ihn nicht nur ab, sondern liefert ihm auch Stoff für sein Hobby: Er verarbeitet die Rundblicke auf der Leinwand zu skurrilen Wimmelbildern.

Niemand ist perfekt, auch ein Profi glänzt nicht an jedem Tag. Die geigende Hobby-Reiterin erzählt, wie unterschiedlich ihre Violine reagieren kann, wie sehr ihr die Saiten "mitteilen", ob sie etwas richtig oder falsch gemacht hat - nicht anders als das Verhalten des Pferdes. Den Umgang mit Stress müsse man lernen, sagt Florian Zwiauer, der langjährige Konzertmeister mit der sonoren, singenden Wiener Stimme: Hätte er dies nicht überwunden, er wäre gescheiter. Anderen gelingt das nicht: Ein ehemaliger Bläser hat, gequält von Versagensängsten, auf den Job des Orchesterwarts umgesattelt.

Spielen im Orchestergefüge: "Wie ein Rausch"

Andere sind genussfähig in ihrem Arbeitsalltag: Als Kind habe sie von der großen Solisten-Karriere geträumt, heute aber liebt sie das "machtvolle", rauschhafte Klanggefüge, erzählt eine. "Ich kann etwas gestalten", freut sich ein Cellist und fühlt sich "ein bisschen wie ein Maler", wenn auch im flüchtigen Medium Musik. Wie wichtig er seinen Beruf nimmt, beweist auch ein Krisengespräch am Familientisch: Die Ehefrau will wissen, wer in seinem Leben die erste Geige spielt.

"Tonsüchtig" ist ein 90-minütiges Mosaik mit heiklen, doch auch heiteren und anheimelnden Szenen. Wenn Philippe Jordan, der scheidende Chef und künftige Staatsopern-Musikdirektor, einen Frack probiert und vor dem Spiegel gleich testet, ob der Stoff bei der Arbeit spannen könnte. Wenn sein Kollege Manfred Honeck vor dem Orchester Luftgitarre spielt und den Musikern beschwörend "Tiki-tiki-tikita!" zuruft. Oder wenn Konzertmeister Zwiauer, kurz vor seiner Pension, für die Kamera allein im Saal ein großes Solo gibt. Am bündigsten vermittelt sich der Mix aus Stress, Leidenschaft und Kameradschaft wohl in den Passagen über Sophie Heinrichs Probespiele. Wie ihr die Kollegen vor der Schlussrunde "Toi, toi, toi!" zuflüstern. Und wie sie dann, zur Siegerin avanciert, (in Vor-Corona-Zeiten) von allen getätschelt, gedrückt und umarmt wird. Da kann man sich kaum etwas Schöneres denken als den Dienstort Orchester.