Die deutsche "Bild" ist seit jeher das Symbol für Boulevard-Journalismus härterer Gangart, und das ist ziemlich vornehm ausgedrückt. Denn niemand, der bei "Bild" arbeitet, ist in irgendeiner Weise zimperlich, wenn es um eine gute Geschichte geht, um einen Aufreger, um eine Schlagzeile im gedruckten Großformat mit den Riesenlettern.

Dass das Nachrichtengeschäft im Corona-Jahr 2020 besonders ergiebig, aber auch heikel gewesen ist, zeigt nun eine siebenteilige Amazon-Doku-Serie. In "Bild. Macht. Deutschland?" blickt ein Kamerateam für ein Jahr hinter die Kulissen des Zeitungs- und Medienalltags, der längst nicht mehr nur die Konferenzen für die Printausgabe umfasst, sondern ein quasi 24-Stunden-Online-Livebetrieb geworden ist. Gerade in Zeiten der Pandemie hat man bei Springer viel in Online und in den eigenen TV-Kanal "Bild Live" investiert, er ist ein neues Aushängeschild.

"Unabhängiges Kamerateam"

Dass eine von Amazon produzierte Doku mit dem Hinweis auf ihre "Unabhängigkeit" bis in die heiligsten Hallen der Bild-Redaktion vorgelassen wurde und daraus nun ein (nicht allzu) kritisches Bild dieser Redaktion zeichnet, ist zumindest eine interessante Prämisse, die als Antrieb, sich die Sendung anzusehen, durchaus ausreicht.

Man wird dann auch mit so manchen klischeebehafteten Szenen belohnt, die deutschen Boulevard-Journalismus eben ausmachen. In Form einer hautnahen Reportage begleitet das Kamerateam vor allem den engsten Führungskreis und die Chefredaktion bei der täglichen Arbeit. Die "Stars" der Serie sind Chefredakteur Julian Reichelt und sein Vize Paul Ronzheimer. Der 40-jährige Reichelt macht seinen Job mit der Energie eines Marathonläufers, nur dass sein Kraftstoff keine isotonischen Drinks sind, sondern eine Schachtel Zigaretten nach der anderen. Das Klischee vom kettenrauchenden Journalisten, der alles tut für eine gute Geschichte, erfüllt Reichelt nur zu gut. Dass "Bild" von außen gerne als Schmierblatt bezeichnet wird, stört ihn kaum. Kampagnen für oder gegen Themen, die die "Bild" regelmäßig fährt, nennt Reichelt "kritische Berichterstattung". Man fahre nämlich niemals Kampagnen gegen irgendjemand, sondern diese kritische Haltung sei "vielmehr unsere Job Description".

Im "Bild"-Büro bei Reichelt darf noch geraucht werden, und einen hübschen Pater Noster gibt es dort auch. Plötzlich, als die Arbeit an der Doku noch ganz am Anfang steht, bricht Corona aus und beschert dem Blatt "die beste Nachrichtenlage seit dem Zweiten Weltkrieg".

Aber: "Wo sind unsere 500 Bild-Reporter, wenn man sie braucht?", donnert Reichelt bei der Redaktions-Konferenz. "Wir wollen keine Corona-Zahlen, sondern wir wollen Geschichten über die Menschen da draußen". Reichelt meint: "Das Home Office der Reporter ist die Straße!" Verdammt noch mal, ausschwärmen und liefern! Es muss menscheln, das Ende scheint nahe, man muss Angst haben, es muss knallen!

Kritische Töne

Man sieht, wie Korrespondenten im italienischen Bergamo live, im Web und in Print über die dortigen Zustände berichten und dabei oftmals an ihre Grenzen gelangen. "Weil die in Berlin sich eine Geschichte so und so vorstellen, die mit der Realität vor Ort dann oft nicht viel gemein hat", so eine Reporterin. Es gibt sie also, die kritischen Töne in dieser Doku.

Man sieht auch, wie die "Bild" sich in politischer Einflußnahme übt: Natürlich sind die Hauptstadtpolitiker stets bereit, beim "Bild"-eigenen TV-Kanal vorbeizuschauen, schließlich braucht man diese größte Medienmarke Europas zur Kommunikation. Doch, wie es ein Politiker formuliert: "Der Facebook-Beziehungsstatus zwischen der ‚Bild‘ und der Politik würde lauten: Es ist kompliziert".

Dass die "Bild" gerne Stimmung macht, ist hinlänglich bekannt: Als Angela Merkel zu Beginn der Pandemie länger schwieg, wetterte Reichelt: "So einen Kurz Sebastian, den könnten wir auch gebrauchen". Das Standing der Zeitung in Politkreisen ist umstritten, aber: Keiner kann sagen, die "Bild" wäre ihm wurscht.

Immerhin: Auch Springer spürt die Corona-Krise durch sinkende Auflagen und rückläufige Werbeerlöse. Deshalb ist das Nachrichtengeschäft zuvorderst wirtschaftlich motiviert, man ist weit weniger der "Anwalt der Leser", als der man sich selbst gerne darstellt.

Was auch auffällt: Die "Bild"-Macher, von Julian Reichelt abwärts, sind überwiegend weiße, leicht untersetzte Männer zwischen 30 und 40, zumindest in der Doku sind die Frauen hier eine Minderheit. Was sich ja auch tagtäglich an der Themengestaltung der "Bild" zeigt.

Boulevard der Eitelkeiten

"Bild. Macht. Deutschland?" ist vom Ansatz her als Blick hinter die Kulissen konzipiert, und es gelingt auch, zu transportieren, wie Boulevard-Medien funktionieren. Jedoch ist die Serie auch ein wahres Sammelsurium der Eitelkeiten: Journalisten, die wahre Nachrichten-Junkies sind, und die sich auch gar nicht genug Selbstlob geben können. Als Julian Reichelt in einer Geschichte China die Schuld am Corona-Virus gibt, und dies sogar zu einem Tweet von US-Präsident Trump führt, wähnt man sich am Gipfel der schreiberischen Macht: China, christianisiert durch die "Bild". "Jetzt können wir uns endlich Kuba widmen", lacht Reichelt selbstsicher. Und zündet sich eine Zigarette an.

Man kann der Doku mangelnde Distanz zu den "Bild"-Machern vorwerfen, aber sie zeigt Essentielles: Inmitten des Boulevard-Getöses, das die "Bild"-Macher 24 Stunden täglich umgibt, scheint aus den Augen verloren gegangen zu sein, wofür Medien auch da sind: Um zu informieren, nicht, um zu verunsichern. Um einzuordnen, nicht, um zu verwirren. Jeder Zeit ihre Zeitung, doch der Boulevard der Angst ist in Zeiten wie diesen ein Auslaufmodell.