Seit die #MeToo-Bewegung die Abhängigkeitsverhältnisse in der Filmbranche aufgezeigt und einigen einstigen Produzenten von Weltrang zumindest den Ruf gekostet hat, ist in der Branche nichts mehr so, wie es einmal war. Möchte man meinen. Dass dem nicht so ist, zeigte die Act-Out-Aktion von 185 deutschen Schauspielerinnen und Schauspielern, die sich im vergangenen Februar bewusst zu ihrer Homosexualität bekannten. Aber wie ist die Lage beim Film tatsächlich? Welche Repressionen gibt es hinter den Kulissen, und wieso wollen so viele Schauspieler ihre sexuelle Orientierung lieber geheim halten? Dazu sprach die "Wiener Zeitung" mit einem, der die Verhältnisse genau kennt: Als Casting Director, Regisseur und Schauspieler hat Markus Schleinzer die Lage an allen Fronten miterlebt.

"Wiener Zeitung": Sie sind als Casting Director, Regisseur und Schauspieler stark ins Geschehen in der Filmbranche eingebunden. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht, wie ist die Branche generell eingestellt?

Markus Schleinzer: Ich habe in den frühen 90er Jahren begonnen, als Casting Director zu arbeiten. Damals gab es diesen Beruf bei uns noch nicht wirklich, viele Besetzungen wurden von Produktionsassistenten oder vom Produzenten selbst vorgenommen, oder einflussreiche Agenturen haben sich Drehbücher schicken lassen und alle ihre Schauspieler platziert. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Schauspieler Rollen wegen ihrer sexuellen Orientierung nicht bekommen haben, oder dass sie ohne Outing lebten, um die eigene Karriere nicht zu gefährden. Ich kenne auch jemanden, der in seiner Jugend erkennen musste, im falschen Körper geboren zu sein, und der uns nach einem harten Weg und Operationen und Therapie heute als gestandener Mann über den Bildschirm flimmert. Darüber zu sprechen, wagt er nicht.

Ist der Casting-Beruf vergleichbar mit einer Art Fleischbeschau?

Natürlich. Es sollte eigentlich das Talent verhandelt werden. Oder Glaubwürdigkeit im Spiel. Aber oft geht es auch um krumme Nasen und hässliche Zähne. Man braucht eine gute Magenschleimhaut.

Welche Übergriffe gibt es in dieser Phase der Filmproduktion, und hat sich da inzwischen etwas geändert?

Ja. Ich wurde als Caster einmal von einem Regisseur verpflichtet, der gerade Single war und mich aufgefordert hat, ihm nur Frauen für seinen Film vorzuschlagen, die man auch vögeln kann. Aber Casting ist keine Zuhälterei. Da hat sich der Umgang in der Branche durch die #MeToo-Bewegung sehr stark sensibilisiert.

Welche Folgen hat ein Outing von schwulen oder lesbischen Schauspielern?

Diese Kollegen und Kolleginnen werden sehr oft sehr schnell in eine Ecke gedrängt. Als schwuler Mann wirst du dann in Klischeerollen besetzt, spielst immer wieder den Friseur, oder als lesbische Frau die Fernfahrerin. Man traut ihnen nicht zu, dass sie auch andere Rollen spielen könnten. Aufgrund einer gelebten Privatheit wird hier nur noch eine stereotype Rollenauswahl getroffen. Und das ist seltsam, denn wenn man nach einem "Tatort"-Abend sagen würde: "Ok. Lüge. Habe noch nie gemordet", würde man dann dadurch auf alle Zeit seine Glaubwürdigkeit als Schauspieler verlieren? Oder: "He! Ich bin gar nicht König. Sorry." Aber anders zu sein, war immer ein Machtinstrument, das man gegen dich in der Hand hatte. Das ist es bis heute.

Ist ein Outing nicht auch ein Prozess, bei dem eine Last von einem abfällt?

Auf jeden Fall. Denn ich glaube, das ganze Leben lang etwas vorzuspielen, das ist nicht gesund für die Psyche. Aktuell gibt es gerade eine Art Gegenbewegung auch bei Streaming-Diensten wie Netflix. In manchmal sehr bemühter Form finden diverse sexuelle Orientierungen und Leute aus verschiedenen Herkunftsländern Eingang in den Hauptcast. Auch Rollenbilder werden aufgebrochen: Alles, was bisher männlich konnotiert war, muss gebrochen werden, und plötzlich sind die Ghostbusters eine weibliche Truppe.

Ist diese Umlackierung von alten Klischees denn schon genug?

Nein, und auch nicht zielführend, meiner Meinung nach. Mit ein paar Brüchen von alten Rollenklischees ist es nicht getan. Und dieser Eroberungsschrei aus dem Gender-Eck; "Jetzt sind wir dran!!" - Das ist auch eher kontraproduktiv. Aber das Pendel muss jetzt offensichtlich stark in diese Richtung ausschlagen. Diversität bedeutet letztendlich aber nur, dass jeder etwas anderes ist als der andere. Wenn dieses Anderssein dein Gegenüber eines Tages vermeintlich nicht mehr gefährdet in seinem Ich und in seinem Leben, dann ist das Ziel erreicht. Wer würde heute nochmals über Frauenwahlrecht so diskutieren, wie es über die Homoehe immer noch geschieht? In ein paar Jahrzehnten wird man sich wundern, dass man da überhaupt etwas zum Diskutieren gefunden hat.

Sie streifen in Ihren Regiearbeiten "Michael" und "Angelo" durch das Thema Außenseiter durchaus die Anliegen der Diversitätsbewegung.

Das Außenseitertum ist sozusagen mein filmisches Hauptthema. Jeder von uns ist anders, sein eigenes Individuum. Und immer aber brauchen wir den anderen, um uns zu definieren. Voilà. Damit hat man genug Stoff für ein ganzes künstlerisches Leben. Und natürlich ist völlig klar, dass man den Pädophilen aus "Michael" nicht mit der Figur des Soliman aus "Angelo" gleichsetzen kann. Aber beide sind Außenseiter, sind Ausgegrenzte. Und der Umgang mit Ihnen immer ein Seismograph für die Gesellschaft.

Wie weit wird Diversität bereits verstanden und gelebt?

Ich glaube, man muss aufpassen, dass bei solchen Debatten keine Ideologien übertragen werden, gerade beim Gendern oder bei Quotendebatten. Es gibt Leute, die sagen, nur Schwule könnten Schwule spielen, aber das ist Mumpitz. Deshalb ist man ja Schauspieler, um eben verschiedenste Figuren darstellen zu können. Die Act-Out-Bewegung will Stereotype brechen. Homosexualität als Thema gab es ja schon im Stummfilm. In den 1990ern waren Schwule immer noch mehrheitlich die netten Nachbarn, meistens Maskenbildner, die zum Quatschen vorbeikamen oder gemeinsam mit der besten Freundin Shoppen gingen. Es wäre an der Zeit, einen Status der Normalität zu erreichen und Homosexualität nicht mehr in dieser Operettenhaftigkeit darzustellen, in der frivolen Klamotte, mit Gunther Philipp und Peter Alexander als unglaubwürdigen Gorgonen in Frauenkleidern vor der Kamera. Homosexuelles Leben sieht selten so aus, wie wir das immer wieder vorgegaukelt bekommen haben. Und beschäftigt sich auch nicht 24 Stunden am Tag mit Homosexualität.

Was ist die Basis dieser stereotypen Darstellung?

Es ist systemischer Sexismus, der in allen von uns steckt. Diesem dürfen wir nicht mehr naiv begegnen, ohne zu wissen, dass wir damit andere verletzen können. Wir suchen unsere Helden ja heute nicht mehr unter den Soldaten. Sondern wir suchen sie im Showbusiness oder Sport. Es sind Vorbilder, Idole, die unsere Träume leben. Diese Helden müssen das leisten, wozu wir selbst nicht fähig oder zu faul oder zu feig sind. Sie müssen auch fehlerlos sein. Wenn dieser Held ein Privatleben hat, das uns nicht passt, wird es schwierig. Es folgt zumeist ein Absturz.

Kevin Spacey ist dafür wohl ein gutes Beispiel.

Ja, er wurde sozusagen ausgelöscht, nachdem sein Outing und die Vorwürfe gegen ihn publik wurden. Man hat ihn als Mensch und als Künstler vernichtet, ohne darauf zu achten, was davon der Mensch und was der Künstler ist. Unter diesen Maßstäben müsste man alle Häuser von Adolf Loos wegreißen. Spacey hat man aus "Alles Geld der Welt" herausgeschnitten, als der Film bereits fertig war, und seine Szenen wurden mit Christopher Plummer nachgedreht. Das ist beispiellos. Denn da ging es nicht um ein moralisches Verhalten einer Filmfirma, sondern rein um Kohle. Sie hatten Angst, dass mit Spacey weniger Menschen den Film sehen würden.

Sind Vorurteile abschaltbar?

Als ich 14 war und das erste Mal in der U6 einen Schwarzen gesehen habe, konnte ich nicht anders als hinzuschauen. Ich glaube, das ist sehr schwer zu ertragen für Betroffene. Die überlegen sich dann zweimal, ob sie heute rausgehen oder nicht. Insofern glaube ich, dass Vorurteile erst überwunden werden können, wenn die Themen, die ihnen zugrunde liegen, "Common Sense" sind.

Wann sind sie "Common Sense"?

In Österreich bräuchte es dafür noch einen schwulen Fußballer oder Trans-Skisportler, einen offen schwulen Bundeskanzler oder nicht-binären Moderator einer "Land und Leute"-Sendung, dann glaube ich, dass der Weg stimmt. Weil es dann vielleicht eines Tages in so etwas wie einer Allgemeinheit und Normalität angekommen ist.

Wenn es eine Message gibt, die die Schauspieler mit der Act-Out-Aktion transportieren wollten, welche wäre das in Ihren Augen?

Act Out wollte die Debatte nicht in eine spezielle Ecke ziehen. Denn die Botschaft heißt: Es gibt so viele sexuelle Formen auf der Welt wie es Menschen gibt. Deshalb haben wir als Schauspieler keinen Bock mehr, dass wir für Stereotype herhalten sollen. Wenn wir mit unserer Arbeit von der Welt erzählen sollen, dann bitte in der Vielschichtigkeit, die wir alle kennen. Ich glaube, das sollte die Botschaft sein.