Wer dieser Tage in Cannes in das Palais des Festivals eingelassen werden will, der braucht ein Dokument, dass die 3G-Regel nachweist. Allein: Die französischen Scanner sind mit heimischen Impfdokumenten überfordert, und so wird man dann doch durchgewunken, auf dass vor dem Palais kein Stau entsteht. Corona ist für viele hier schon vorbei, dabei dräut neues Ungemach: Die Delta-Variante ist (sprichwörtlich) in aller Munde, nur beim Festival will das keiner wahrhaben. Man beruhigt, es gebe hier keinen Covid-Cluster, also verläuft das Programm nach Plan.

Und der sieht vor, dass es zur Mitte des Festivals bereits etliche große Namen auf dem roten Teppich zu geben hat, obzwar einige dann doch nicht erschienen sind, wie etwa die positiv auf Corona getestete Französin Léa Seydoux, die hier vier Filme vorstellen wollte, aber trotz Impfung nun in Paris in Quarantäne sitzt.

Wie ein Hochglanzmagazin

Lesbische Lust im Kloster, in Verhoevens "Benedetta". - © FdCannes
Lesbische Lust im Kloster, in Verhoevens "Benedetta". - © FdCannes

Einer dieser Filme mit Seydoux ist Wes Andersons "The French Dispatch", eine skurrile Hochglanz-Zeitschrift von einem Film, die der Regisseur schon im Vorjahr hier hätte zeigen wollen, wäre das Festival damals nicht abgesagt worden. Aber der Film passt eben nur hierher, weil er das Französische an sich zelebriert, mit all den Ecken, Kanten und Schönheiten, die diese Kultur zu bieten hat. Anderson und sein All-Star-Cast, darunter Bill Murray, Tilda Swinton, Christoph Waltz, Benicio del Toro, Mathieu Amalric, Owen Wilson und eben Seydoux, deklinieren die französische Lebensart durch und packen sie in die Hochglanz-Wochenendbeilage einer Tageszeitung, das ist sehr chic, und wahrscheinlich gab es noch kaum einen Film in der Filmgeschichte, der so detailverliebt über sein Thema erzählte. Es geht um einen Zeitschriftenverleger (Murray), der im Städtchen Ennui (dt. für Langeweile) sein Magazin "The French Dispatch" herausbringt, und dort nur die besten Edelfedern beschäftigt. Die haben allesamt ihre Allüren, und die Geschichten, die sie schreiben, entführen mal in den Knast, wo ein bärtiger Mörder (del Toro) als Maler entdeckt wird, dessen moderne Kunst (er malt unkenntliche Akte von Léa Seydoux, die als gestrenge Gefängniswärterin auftritt und sehr oft nackt ist) plötzlich Millionen wert ist. Tilda Swinton gibt eine eitle Kunstrichterin, Owen Wilson den Fremdenführer, Frances McDormand eine linke Reporterin und Timothée Chalamet einen Studenten-Revoluzzer. "The French Dispatch" ist filmgewordene Zeitschrift, die man immer wieder aufschlagen kann. Wes Andersons bisher wohl stilistisch reifster und fantasievollster Film gehört schon jetzt zu den Top-Favoriten auf einen der Hauptpreise.

Lesben im Kloster

Eher nicht in die Nähe der Palme dürfte Paul Verhoevens Nonnen-Lesben-Sexfilm "Benedetta" gelangen. Nun ja, es ist kein echter Sexfilm, aber es gibt darin jede Menge Sex, Blut, Schlangenbisse und Jesus auf einem Schimmel, der die Schlangen mit dem Schwert vom Luxuskörper der nackten Nonne Benedetta (Virginie Efira) schlägt. Die träumt das freilich, aber wenn erst einmal die Saat im Kopf gesät ist, folgen bald Taten. Und weil ein dahergelaufenes, missbrauchtes Teenager-Mädel gerade recht kommt, um sich in sie zu verlieben und sich nach ihr zu verzehren, geht die Geschichte eben diesen Weg. Im Orden ist die Hölle los. Bald ist auch eine kleine, dildoförmige Marienstatue genau das: Ein Dildo. Verhoven, der Filme wie "Showgirls" und "Basic Instict" gedreht hat, kennt sich mit Lust aus. Mit 82 probiert er hier einen Skandal, aber das geht schief, den dazu hat dieser Film trotz seiner Exploitationbilder zu wenig Radikalität, um wirklich abseits seines Genres zu provozieren.

Die Provokation, sie ist ein Leitbild des Festivals, und das zeigen auch andere Arbeiten: Catherine Corsini etwa behandelt die Situation von Pflegekräften in ihrem eindringlichen Film "La fracture", während Sean Penn in "Flag Day" einen Vater-Tochter-Konflikt vor dem Hintergrund der kriminellen Machenschaften des Vaters eskalieren lässt. Das Ganze aber in einem Maximum an 70er- und 80er-Ästhetik, die zum Schwelgen in eigene Gefühlswelten einlädt.

Enttäuschend die neue Arbeit von Nanni Moretti, der in "Tre piani" die unerheblichen Probleme der weißen Mittelschicht Roms durchdekliniert. Mia Hansen-Løve wandelt in "Bergman Island" durch das filmische Universum Ingmar Bergmans und lässt auf dessen einstiger Wohn- und Wirkstätte zwei liierte Filmschaffende (Tim Roth, Vicky Krieps) am eigenen Oeuvre weiterarbeiten, was bald zu Beziehungsproblemen führt. Auch ziemlich unerheblich, dieser Film.

Abseits des Wettbewerbs hat Oliver Stone in "JFK Revisited: Through the Looking Glass" eine akribische Rekonstruktion des Kennedy-Attentats unternommen, das wie schon sein Spielfilm "JFK" von 1991 an der offiziellen Version zum Tathergang zweifelt. Allerlei spannende Details erzeugen auch fast 60 Jahre nach dem Attentat noch immer Gänsehaut.