"Sehr lange werde ich diese Arbeit nicht mehr machen können", gibt sich Oliver Stone resigniert. Der 74-jährige Kult-Regisseur ("JFK", "Platoon", "Wall Street") spielt damit auf sein Alter an. "Es ist nun mal eine Gewissheit, dass ich nicht mehr endlos viel Zeit haben werde". Der Anlass für diese Aussage: Stones Doku "JFK Revisited: Through the Looking Glass", der in Cannes außerhalb des Wettbewerbs Premiere hatte. Darin geht Oliver Stone in die seit den späten 1990er Jahren (und als indirekte Folge seines Spielfilms "JFK") geöffneten Archive rund um das Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963 und stellt Nachforschungen an: Viele der bereits in "JFK" (1991) angezweifelten Fakten der offiziellen Darstellung des Attentats zieht Stone erneut in Zweifel, denn die Dokumente erhärten, dass die Einzeltäter-Variante nicht zu halten ist. Demnach ist es unmöglich, dass Lee Harvey Oswald den Präsidenten mit mehreren Schüssen ermordet haben soll, wie die Doku nicht nur unter Zuhilfenahme zahlreicher Experten erläutert, sondern auch spannende Ungereimtheiten bei den nun erstmals zugänglichen Dokumenten zu dem Fall präsentiert.
"Die Amerikaner sind belogen worden, und es ist nicht das erste Mal", sagt Stone im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" in Cannes. "Es gibt in den USA praktisch niemanden, der Fragen stellt über die Tätigkeiten des Militärs oder der Geheimdienste, das ist skandalös". Für Stone, der sich auch als investigativer Aufdecker sieht, ist das nur schwer nachzuvollziehen. Warum gibt es niemand, der Fragen stellt? "Das weiß ich nicht. Ich glaube, es ist einfach bequemer, sich mit den offiziellen Antworten zufrieden zu geben", so Stone. "Es ist bezeichnend, dass sich auch keine Produktionsfirma in den USA gefunden hat, die unsere Doku finanzieren wollte. Schließlich fanden wir britische Produzenten. Das sagt viel darüber aus, wie heiß das Thema noch immer ist, fast 60 Jahre nach dem Attentat", so Stone.
Niemand, weder Trump noch Obama, hätten Aufklärung gefordert, und auch von Joe Biden erwartet sich Stone keinen neuen Input: "Er ist einfach zu lange im politischen Geschäft, als dass ich mir von ihm wirkliche Neuerungen erwarte. Er ist natürlich besser als Trump, aber für die Aufklärung dieses Falls wird das nichts bringen".
Wobei es ja durchaus noch weitere aufklärungsbedürftige Fälle in der jüngeren amerikanischen Geschichte gäbe: Zum Beispiel den Anschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001, zu dem es auch seit Jahren die wildesten Verschwörungstheorien gibt. "Sie sprechen mir aus der Seele", sagt Oliver Stone, der bereits 2006 mit "WTC" einen Spielfilm über die Anschläge drehte. "Meine gesamte Entourage fordert mich immer wieder auf, mich mit diesem Thema zu beschäftigen. Aber ich glaube, das traue ich mir nicht zu". Oliver Stone ist zahm geworden, oder etwa nicht? Die stakkato-artige, energische Machart von "JFK Revisited: Through the Looking Glass" lässt dies jedenfalls nicht vermuten: Selten hat Stone leidenschaftlicher versucht, das gut gehütete Geheimnis zu einem Verbrechen zu lösen.
Sehen Sie hier im von uns mitgeschnittenen Video die stehenden Ovationen für Oliver Stone in Cannes und seine kurze Ansprache zum Film an die Premierengäste: