Sie könnte ein denkwürdiger Abend werden, diese 94. Oscar-Nacht, die von Sonntag auf Montag im Dolby Theatre in Los Angeles über die Bühne gehen wird. Ganz anders als im Vorjahr sind wieder Gäste willkommen, und die Fadesse der Show von 2021 soll sich keinesfalls wiederholen. Alles andere wäre auch Kassengift: Die Oscars, einst prestigeträchtige Speerspitze der TV-Unterhaltung in den USA (und auf der ganzen Welt), hatten mit Negativrekorden bei den Einschaltquoten zu kämpfen, aber das soll besser werden. Zum Beispiel, weil man einen neuen Preis ins Leben gerufen hat: Ab heuer gibt es einen Publikumspreis, den die Zuschauer selbst küren - freilich ist das kein offizieller Oscar, aber immerhin will die Oscar-Academy damit das gemeine Volk besser einbinden. Es soll nämlich in Hollywood schon geholfen haben, wenn man auf die Zuschauerbedürfnisse eingeht.

Teppich ohne Stolperfallen

Wird Regisseurin Jane Campion triumphieren? 
- © K. Sartena

Wird Regisseurin Jane Campion triumphieren?

- © K. Sartena

Der rote Teppich liegt bereits. Auf 100 Metern werden am Sonntagabend hier die Stars ins Dolby Theatre schreiten, die unzähligen Mitarbeiter haben sämtliche Stolperfallen beseitigt, damit man selbst in High Heels nirgends hängen bleibt. Details, auf die es bei der Oscar-Nacht zu achten gilt.

Die Oscars sind durch und durch kommerzielle Filmpreise, um die Filmkunst geht es hier dezidiert nicht; es geht um die Maximierung von Öffentlichkeit für eine Branche, die eigentlich recht geschunden am Boden liegt. Die Pandemie hat das Kino als primäre Abspielstätte von Filmen zutiefst infrage gestellt, und die Unterhaltungsindustrie laboriert immer noch an den Nachwehen von #MeToo; eine Imagekorrektur ist also nötig, und man darf gespannt sein, wie die Academy als Gralshüterin des Selbstverständnisses dieser Industrie darauf reagieren wird. Die Antwort wird sein: bedächtig, gemächlich, besinnlich.

Denn die Gala an sich ist immer von einem kollektiven Schulterschluss der Kreativen Hollywoods geprägt, an diesem Abend ist einfach immer alles gut und jeder der Freund eines jeden. Die Veranstaltung muss inzwischen auf Geschlechterfragen ebenso Rücksicht nehmen wie auf Hautfarbe und politische Gesinnung. Politisch korrekt sein, das ist oberste Priorität. Und weil das so ist, sind dieses Jahr auch wieder alle mit dabei: Oscar-Presenter sind unter anderem Anthony Hopkins, Bill Murray, Uma Thurman, Lady Gaga, Mila Kunis und John Travolta. Hinzu kommen die Tennis-Größen Serena und Venus Williams, "West Side Story"-Star Rachel Zegler und Kollegen wie Josh Brolin, Jake Gyllenhaal und Jason Momoa. Gastgeberinnen der 94. Academy Awards sind die Schauspielerinnen Amy Schumer, Regina Hall und Wanda Sykes.

Die Nacht von Jane Campion?

Bei all dem Glitzer haben die Buchmacher die potenziellen Gewinner am Papier: Als Sieger des Abends wird von vielen Jane Campions Western "The Power of the Dog" gesehen, der gleich zwölffach nominiert ist. Die Netflix-Produktion gewann bereits unzählige Preise, darunter den Regiepreis in Venedig. Campion ("Das Piano") ist die erste Frau, die bereits zum zweiten Mal in der Kategorie Regie nominiert ist. Vor ihr gewann nur eine Frau den Preis: Kathryn Bigelow für "The Hurt Locker" (2010). Ein Wandel hin zu mehr Geschlechterparität sieht freilich anders aus, auch wenn Campion der Oscar nicht mehr zu nehmen sein dürfte.

Aber es gibt Konkurrenz: So könnte die Coming-of-Age-Story "CODA" über einen hörenden Teenager in einer tauben Familie Apple TV+ den "Best Picture"-Oscar bringen. Mit zehn Nominierungen, auch als bester Film, aber zumeist in technischen Kategorien, geht "Dune" ins Rennen; das Sci-Fi-Epos dürfte bei Special Effects und Sound abräumen. Bei den Schauspielern ist Will Smith der Favorit bei den Männern, und zwar als Tennisvater von Venus und Serena Williams in "King Richard". Bei den Darstellerinnen gibt es keine eindeutige Favoritin, jedoch ist Jessica Chastain in ihrem Part in "The Eyes of Tammy Faye" gleichauf mit Kristen Stewart, die für ihre Darstellung von Lady Diana in "Spencer" nominiert ist.

Preisverdächtig ist das siebenfach nominierte "Belfast", in dem Kenneth Branagh von seinen Jugendjahren erzählt; ein Drehbuchpreis sollte möglich sein, aber es gibt hier auch gewaltige Konkurrenz von Paul Thomas Anderson ("Licorice Pizza") - für ihn ist es die achte Nominierung, und bisher ging er immer leer aus. Beim adaptierten Drehbuch spielt sich neben Campion auch Maggie Gyllenhaal in der Vordergrund, die daraus ganz famos ihr Regiedebüt "The Lost Daughter" geformt hat. Und während alle Welt davon ausgeht, dass Billie Eilish das Rennen um den besten Filmsong macht (der James-Bond-Titelsong "No Time to Die"), wird es für Disney in der Kategorie "Bester Animationsfilm" wohl klappen: Ist man hier doch dreifach nominiert, und zwar für "Raya und der letzte Drache", "Luca" und "Encanto". Letzterer trat seinen Internet-Siegeszug vor allem wegen der mitreißenden Lieder an, aber auch 007 will geehrt werden, und die Oscars sind da gewöhnlich ganz fair und werden wohl alle Würdigen bedenken.

Politische Reden

Bleibt abzuwarten, ob die Oscars auch politischen Reden und Appellen Platz machen werden: Die Weltlage wäre prädestiniert für den einen oder anderen gewagten Spruch für Frieden. Es kann aber auch sein, dass man seitens der Filmbranche kaum Stellung bezieht. Schließlich ist man der Urheber großer Illusionen, die man gerade im Kampf um die eigene Bedeutung nicht mit zu viel Alltagsrealismus unterlaufen will. Eskapismus ist die wohl größte Chance, die Hollywood seit langem hatte.