Bei der Diagonale in Graz nahm Regisseurin Sabine Derflinger am Sonntag den Großen Diagonale-Dokumentarfilmpreis für ihre Doku über Alice Schwarzer entgegen, bereits zum zweiten Mal nach 2020, wo man sie für das Porträt "Die Dohnal" auszeichnete. Beide Filme erzählen von Frauen, die ihre Umwelt geprägt, im Fall von Alice Schwarzer sogar nachhaltige Veränderungen bei der Gleichstellung der Geschlechter gebracht haben. Der Film ist sensibles Porträt und lautstarkes Plädoyer für den Feminismus gleichermaßen.
"Wiener Zeitung": Alice Schwarzer hat ein stark medial begleitetes Leben geführt. Wie trifft man beim Herstellen einer Doku dann seine Auswahl? Dinge weglassen? Dinge bewusst betonen, herausgreifen?
Sabine Derflinger: Ich wusste sehr viel über das Leben und Wirken von Alice Schwarzer, ich bin ja sozusagen aufgewachsen mit ihr! Da Schwarzer den Feminismus in den Mainstream gebracht hat und ständig im Fernsehen war, war das eine Ikone, die jeder kannte. Aber ich habe den Film ja nicht für mich gemacht, sondern auch für künftige Generationen, die das jedenfalls nicht so wissen. Gerade die Jungen kennen sie vielleicht nur mehr am Rande. Also musste ich im Film schon die Grundlagen erzählen.

Ist Alice Schwarzer, die im Herbst 80 wird, jemand, über den sich schon ein Resümee ziehen lässt?
Nein, und ich hatte auch gar nicht vor, ein Resümee zu ziehen. Was ich wollte, ist, Schwarzer mit ihrer Arbeit zu verbinden, über die der Zuschauer dann ihre wichtigsten Anliegen spüren kann. Man sollte auch den Menschen Alice Schwarzer dahinter spüren. Ein Resümee über einen Menschen zu ziehen, würde ich mir nicht zumuten. Ich hatte einen klaren Schwerpunkt: Wie sehr sind Frauen in der Lage, über sich selbst zu bestimmen? Über ihren Körper, ist es ihnen möglich, abzutreiben oder ihren Körper zu verkaufen? Wird er verhüllt oder nicht? Welche Rechte haben Frauen?. Diese Fragen in Verbindung mit der Person von Alice Schwarzer zu bringen, das war mein Ansatz bei diesem Film. Ich habe die Doku ja nicht allein gemacht, sondern auch neue Blickwinkel forciert: Meine Schnittmeisterin Lisa Geretschläger etwa ist gerade einmal 30 Jahre alt und hat einen ganz anderen Blick auf Schwarzers Arbeit als ich. Das hat den Film befruchtet.
Frau Schwarzer ist jedenfalls eine sehr selbstbestimmte Frau, die sich nicht alles sagen lässt - haben Sie das auch beim Dreh gespürt? Mussten Sie sich gegen sie durchsetzen?
Ich stelle mich auf meine Protagonisten immer sehr genau ein und gebe ihnen den maximalen Raum, beim Spielfilm wie im Dokumentarischen. Natürlich gibt es eine ganz klare Vision von dem, was ich will, und am Ende des Tages bekomme ich das auch. Vielleicht bekommt die Protagonistin das nicht immer mit, aber ich erzwinge ja auch nichts. Schwarzer ist jemand, die gewohnt ist, alles zu kontrollieren, aber am Ende treffe ich Entscheidungen, die für den Film gut sind. Alice hatte beispielsweise keine Lust, für den Film mit dem Auto durch Paris zu fahren. Sie hatte das Gefühl, das wirke touristisch, und sie selbst ist auch nie mit dem Auto durch Paris gefahren. Aber als wir das trotzdem gedreht hatten, hat ihr das sehr gefallen, weil sie merkte, dass man da einen geschlossenen Raum hatte, in dem man gemeinsam unterwegs ist und draußen zieht die Stadt vorbei. Das gibt eine unglaubliche Dynamik. Wenn man mit jemandem arbeitet und ihm vertraut, dann funktioniert das gut.
Wie entstand der Wunsch, diesen Film zu machen?
Aus der Begegnung mit Alice Schwarzer, die mir für meinen Dokumentarfilm "Die Dohnal" ein Interview gegeben hatte. Ich fand, dass diese Ikone, die so viel für uns Frauen gemacht hat, in einem Film gewürdigt werden sollte, der ihre Geschichte auf die große Leinwand wirft. Dass das wuchtiger wird als ein bloßes Fernsehporträt.
Es gibt insgesamt drei Versionen des Films. Wieso?
Ja, wir haben eine Version mit 136 Minuten gemacht, die fürs Kino gedacht ist. Dann gibt es eine 100-minütige Version, die man gut bei Veranstaltungen einsetzen kann. Und schließlich eine Version mit 52 Minuten für den Sender Arte, die ein wenig anders ist: Da ist das Hörbuch, das Alice Schwarzer gemacht hat, eine Art Stichwortgeber für Schlüsselmomente in ihrem Leben. Über diese drei Versionen könnte man an der Uni eine Schnittvorlesung oder ein Dokumentarfilmseminar halten, so komplex ist das: Was bedeutet Erzählung in den unterschiedlichsten Formen? Mir war wichtig, dass es die längere Kinoversion gibt, die den Raum eröffnet, den Film ganz individuell wahrzunehmen, und wo jeder Zuschauer wohl einen anderen Film sieht. Das finde ich spannend.
Klingt nach viel Aufwand.
Es war für mich in jeder Hinsicht ein Forschungsprojekt. Zumal ich zusätzlich im Vorfeld alles gelesen hatte, was rund um Alice Schwarzer und von ihr selbst publiziert worden ist. Auch die feministische Literatur von damals und heute habe ich mir genau angesehen. Und natürlich wahnsinnig viel Archivmaterial aus den TV-Sendungen, wo ich genau wusste, das werde ich nicht verwenden, aber ich brauchte es, um ein Gefühl für die Zeit und ihre Themen zu bekommen.
Es fällt im Film irgendwann der Satz Schwarzers, dass sie sich schon gern die Tür aufhalten lässt und dass es durchaus Annehmlichkeiten gibt, die sie schätzt. Zugleich auch, dass sie niemand ist, der beim Auto die Reifen selbst wechseln würde. Feminismus ist für Alice Schwarzer mehr als das Konglomerat von Klischees, das man davon im Kopf hat.
Die große Kraft von Alice ist, dass sie die Dinge auf den Punkt bringt, analysiert und durchdenkt. Sie sieht vieles in einem Bezug zum praktischen Leben. Sie ist in diesem Sinne keine Ideologin. Das verbindet mich mit ihr. Ich glaube, der Feminismus der Alice Schwarzer ist einer, bei dem es um Menschenrechte geht, und Menschenrechte sind halt auch Frauenrechte.
Könnte man das als angewandten Feminismus bezeichnen?
Ja, ich denke schon. Es geht dabei darum, dass alle Menschen, egal wo sie herkommen, die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben und niemand benachteiligt wird. Aber es ist nicht alles so strikt, es gibt Freiräume, eine gewisse Lockerheit. Bei Alice gibt es viel Raum für Humor. Und man soll nicht alles immer so abgezirkelt abstecken. Es wäre super, wenn wir das alle beherzigen. Alles krampfhaft nach Vorschriften auszulegen, hat natürlich damit zu tun, dass man sich Sicherheit wünscht, gerade in Zeiten wie diesen. Geregelte Dinge bieten Sicherheit. Aber das Leben ist auch flexibel und hat eine eigene Dynamik, für die es keine Regeln und Normen gibt. Das sieht man als Alice Schwarzer gut: Sie denkt so und hat eine sehr bodenständige Art. Etwas Handfestes.
Haben Sie Frau Schwarzer als sehr nahbare Person erlebt?
Ja, sie ist nahbar. Und neugierig. Auf alle Menschen. Man wünscht sich selbst, auch immer so neugierig zu bleiben. Ich glaube, ihre Neugierde ist ihr Motor.
Im Film gibt es etliche Konfrontationen aus den TV-Archiven. Was auffällt: Es gibt solche Sendungen und solchen Raum für Eklats und Meinungen im heutigen Fernsehen kaum mehr.
Das stimmt. Es gibt kaum mehr Freiheit im Fernsehen. Wo etwas außer Kontrolle gerät und Unvorhersehbares passiert. Die Generationen, die diese Sendungen noch sehen durften, wussten, dass man freigeistig und provokativ sein darf. Es wäre an der Zeit, dass es im Fernsehen wieder mehr Formate gibt, die den Menschen zeigen, dass man nicht so angepasst sein muss. Es ist auch eine Art von Entdemokratisierung, wenn man die Menschen nicht nur ermutigt, gehorsam zu sein, sondern auch ungehorsam zu sein. Sich was zu trauen. Aus dem Rahmen zu fallen.
Die Pandemie hat das stark verschoben, die Wogen gehen schneller hoch als früher, und alles wird aggressiver. Sehen Sie das auch so?
Wir leben in einer komplexen Zeit, und früher war auch nicht alles gut. Nur in der nostalgischen Erinnerung. Aber früher gab es das Gefühl eines Aufbruchs, das letztlich einer Verunsicherung gewichen ist. Und es gibt etwas Apokalyptisches, das über allem schwebt, obwohl wir immer noch im Gastgarten unser Wiener Schnitzel essen. Das erzeugt Spannungen.
Soziale Medien laden das zusätzlich auf.
Ja, die Kommunikationswege sind sehr kurz und alles wird sehr schnell sehr heiß gegessen. Mehr Leichtigkeit und Entspannung täte uns gut. Die Vorstellung, dass wir in Sicherheit sind, wenn wir uns auf die vermeintlich richtige Seite schlagen, ist ein Trugschluss. Man darf nicht so streng sein, weder mit sich noch mit den anderen. Die Ansprüche sind generell zu hoch. Man sollte wieder offener werden und weniger verkrampft.