Man kann es Wagemut oder Verrücktheit nennen, sich des in Österreich so beliebten "Sissi"-Mythos auf ein Neues anzunehmen. Wagemutig, weil diese Figur so viel Heimatstolz und Nachkriegs-Verblendung auf sich vereint, dass man an ihr lieber nicht rüttelt. Verrückt: aus denselben Gründen. Die Wiener Regisseurin Marie Kreutzer ist beides nicht - wagemutig und verrückt, in Bezug auf ihr filmisches Thema in dem Cannes-Beitrag "Corsage", der am Freitag seine Weltpremiere in der Reihe "Un certain regard" gefeiert hat. Aber Kreutzer geht in "Corsage" der anderen, der eigentlichen "Sisi" auf den Grund und schafft es dennoch, die Romy-Schneider-Glückseligkeit für die, die sie brauchen und lieben, nicht zu diskreditieren; sie erzählt von einer getriebenen Kaiserin, zwischen Schönheitswahn und Gewichtskontrolle, zwischen Repräsentationszwang und Ausflucht in die Welt. Vicky Krieps spielt diese Kaiserin Elisabeth mit einer nüchternen, fast trockenen Schönheit, bei der aus jeder Pore ihrer Haut die Traurigkeit dieser Figur dringt.
(Nicht ganz) der historischen Akkuratesse verpflichtet
"Corsage" ist von der Marischka-Trilogie aus den 1950er Jahren mindestens genauso weit entfernt wie von Romy Schneiders "Wiedergutmachung" ihrer "Sissi"-Filme durch Luchino Viscontis "Ludwig II." (1972), wenngleich sich der eine oder andere Hinweis auf diese Filme hier wiederfindet, was gar nicht uncharmant ist. Zudem lehnt Kreutzers Konzept auch eine Übersetzung des "Sisi"-Mythos in die Popkultur ab, wie es Sofia Coppola in ihrem auf seine Art famosen Filmporträt "Marie Antoinette" (2006) versucht hat. "Corsage" bleibt schon stark in seinem historisch akkurat herbeikonstruierten Setting verhaftet, wenngleich sich die Regisseurin viele Ausbrüche aus diesem - sic! - Korsett gönnt: Etwa, indem Kaiser Franz-Joseph (Florian Teichtmeister) hier einen abnehmbaren, künstlichen Backenbart trägt und einen stilistisch irritierenden Rollkragenpulli. Oder, indem die Kaiserin anno 1877 in Filmaufnahmen zu sehen ist, welche zu dieser Zeit noch gar nicht erfunden waren. Oder, wenn Kreutzer vom noblen Hof-Dekor plötzlich in neumodische Stahlbeton-Baracken wechselt, um auch die Heutigkeit ihrer Geschichte zu betonen: Das Schicksal von Kaiserin Elisabeth als einsame, sich den Zwängen fügende Frau ist nicht bloß jenes einer bemitleidenswerten Kaiserin (der man gar Heroin verschreibt, auf dass sie ruhiger werde), sondern auch das Spiegelbild eines Frauseins, das sich im Grunde über die Jahrhunderte nicht verändert hat: Es ist ein durchaus feministischer Ansatz, den Kreutzer in "Corsage" verfolgt, wenn sie die Nöte dieser Kaiserin in Szene setzt. Das ist mitunter banal im Sinne von normal, schlicht und gebräuchlich gelöst, arbeitet dem Konzept dieses Films aber zu, in der Kaiserin die Nöte jedweder Frau wiederzuerkennen. Und auch die Nöte so mancher Männer.

Apropos Mann: Der Kaiser, hier als durchaus schmieriger Unsympathler gezeichnet, steckt auch in einer Art Korsett, ganz wie die gewichtsbewusste Gattin. Nur stehen ihm, dem untersetzten Monarchen, dem ein zentnerschweres Vielvölkerreich auf den Schultern lastet, immer noch die Mittel zur Verfügung, sich mit einem gewaltsamen Befreiungsschlag aus jeglicher Affäre zu ziehen. Elisabeth musste diese Bedrohungen und Bedrückungen anders bewältigen, zumeist geschah dies durch ihre langen Reisen ins Ausland.
Bei Ehebruch kamen Frauen in die Psychiatrie

Die "Corsage"-Crew bei ihrer Cannes-Party am Strand.
- © Katharina Sartena"Corsage" vermittelt diese Ausfluchten aus der Verantwortung als seelischen Spießrutenlauf einer Frau, die ge- und vertrieben durch ihre eigenen Depressionen irrlichtert, immer auf der Suche nach einer Erlösung, die sie aber nicht findet. Und das zu einer Zeit, in der Frauen im Reisepass des Ehemannes eingetragen waren und bei Ehebruch in die Psychiatrie eingewiesen wurden. Ein Aspekt, den Marie Kreutzer auch detailliert in ihrem Film verhandelt: "Ihr Ehemann durfte so viele Geliebte haben, wie er wollte, und bei all den Zwängen, die auf ihm lasteten, hatte er auf der anderen Seite viel mehr Freiheiten als seine Frau", sagt die Regisseurin beim Gespräch in Cannes. "Wobei man sagen muss, dass Elisabeth hier durchaus an ihre Grenzen ging, für damalige Verhältnisse."
Für Kreutzer ist der feministische Aspekt ihrer Geschichte sehr gegenwärtig, denn: "Bis heute wird von Frauen nach wie vor erwartet, dass sie schön sind, gute Partnerinnen sind, gute Eltern sind, dass sie die emotionale Arbeit in den Familien und in den Büros leisten." Die Arbeit einer Frau sei in einer kapitalistisch orientierten Welt unabdingbar für diese, "weil der Kapitalismus nur funktioniert, wenn Frauen diese Arten von unbezahlter Arbeit leisten", so Kreutzer.
Ist Elisabeth, Kaiserin von Österreich, also eine Frau gewesen, die ihrer Zeit lange voraus war? "Mit Sicherheit", findet Kreutzer. "Mit 40, sagt man ihr, ist eine gewöhnliche Frau schon tot, und das mag auf die Lebenserwartung der damaligen Zeit zutreffen; aber ihre seelischen Tode ist Elisabeth schon viel früher gestorben, als man ihr jegliche Illusion von einer Mitgestaltung im Habsburgerreich verwehrte."
Gerade da geht "Corsage" mit den alten Marischka-Filmen Hand in Hand, mit einem frappanten Unterschied: Dort war es das aufmüpfige bayerische Mädel, das ungehobelt den Wiener Hof zu brüskieren imstande war. In "Corsage" ist das jugendliche Ungestüm einer Resignation gewichen. Die ermatteten Augen der Kaiserin haben das Träumen aber nicht verlernt.